Lord Faide war sofort heran und klopfte ihm auf die Schulter. »Gut gemacht! Der Wald brennt wie Zunder!«
Die Krieger und Soldaten traten zurück und erfreuten sich an den Flammen, die immer höher emporzüngelten. Die Nichtmenschen flohen vor der Hitze und gestikulierten ausladend. Während sie liefen, drang sonderbar purpurn gefärbter Schaum aus den Schlitzen, in rhythmischen Stößen und kleinen Fladen. Vielleicht war die Aufregung des Ersten Volkes der Grund dafür, aber natürlich ließ sich damit nichts gegen das Feuer ausrichten. Zuerst fraß sich der Brand durch den Wald, und dann erfaßte er auch die neue Pflanzung und verwandelte Blätter und Zweige in Asche.
»Zum Aufbruch bereit!« rief Lord Faide. »Wir folgen den Flammen, bevor die Wilden zurückkehren.«
Und im Wald hockte das Erste Volk in den Bäumen und blies und schnaufte in großen Blasen Schaum aus den Schlitzen, der bald einen abschirmenden Wall bildete. Das Feuer hatte bereits die Hälfte der Pflanzung erfaßt, und zurück blieben schwellende Schößlinge.
»Los jetzt, geschwind!«
Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Die Krieger und Soldaten husteten im dichten Rauch, und die Augen tränten ihnen. Sie eilten an noch immer brennenden Bäumen vorbei, und nach einer Weile erreichten sie das westliche Hügelland.
Dort setzte die Streitmacht ihren Weg fort, und an ihrer Spitze stießen zwei Kämpfer immer wieder ihre Lanzen ins Moos. Ihnen folgten Lord Faide und seine Ritter, und dann kamen die Infanteristen. Den Abschluß bildeten die Beutekarren und die sechs Wagen der Unglücksbringer.
Ein dumpfes Pochen, ein Knacken und Ächzen. Eine Sichel hob sich aus dem Moos. Die beiden Soldaten mit den Lanzen ließen sich sofort zu Boden fallen. Die Stachel zuckten über sie hinweg und sausten nur knapp am Kopf Lord Faides vorbei. Gleichzeitig erklang weiter hinten ein erschrockener Ruf. »Es verfolgt uns! Das Erste Volk kommt!«
Lord Faide drehte sich um und versuchte, die neue Gefahr einzuschätzen. Es mochten ungefähr zweihundert Nichtmenschen sein, die übers Moor schritten, ohne Hast, ohne Eile. Manche von ihnen waren mit Wespenrohren bewaffnet, andere trugen Dornschwerter bei sich.
Lord Faide beobachtete das sich vor ihnen erstreckende Gelände. Noch etwa hundert Meter, und dann sollten sie sicheres Terrain erreicht haben. Dann hatten seine Truppen die notwendige Bewegungsfreiheit, um auszuschwärmen. »Weiter!«
Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung, und die Beutekarren und Wagen der Unglücksbringer schlossen dichter zu den Infanteristen auf. Hinter ihnen und an der einen Flanke folgten die Autochthonen, und sie gingen langsam, beeilten sich nicht.
Einige Minuten verstrichen, und dann kam Lord Faide zu dem Schluß, daß seine Streitmacht sicheren Grund erreicht hatte. »Schneller jetzt! Bringt die Wagen hierher, rasch!«
Dazu mußten seine Krieger und Soldaten nicht eigens aufgefordert werden. Sie liefen aufs Heideland, und die Karren und Wagen folgten ihnen rumpelnd. Lord Faide ordnete an, sie so aufzustellen, daß sie eine Doppelreihe bildeten. Zwischen den beiden Reihen gingen die Soldaten in Stellung, so daß sie ebenso vor den Wespen geschützt waren wie die Pferde hinter ihnen. Die abgestiegenen Ritter warteten vorn.
Mit desinteressiert wirkendem Gleichmut näherte sich das Erste Volk. Große Facettenaugen starrten aus bleichen und ausdruckslosen Gesichtern. Große Hände umfaßten Rohre und Dornen. Spuren von purpurnem Schaum klebten an den Rändern der schlitzförmigen Öffnungen unter den Armen.
Lord Faide ging an seinen Rittern vorbei. »Schwerter bereit! Laßt sie ganz nahe herankommen! Und dann stürmen wir vor.« Er gab den Infanteristen ein Zeichen. »Wählt ein Ziel…!« Dutzende von Pfeilen sausten über die erste Wagenreihe hinweg und bohrten sich in weiße Leiber. Mit meißelförmigen Fingern zogen die Nichtmenschen die Geschosse aus den Wunden, die sie in keiner Weise zu behindern schienen. Einige wenige taumelten und wankten wie desorientiert umher. Die anderen hoben die Rohre und lösten die Klappen an den Enden. Insekten schwirrten heran, mit summenden Hornflügeln und ausgerichteten Rüsseln. Über das Moos hinweg rasten sie heran, prallten an den Rüstungen ab, fielen zu Boden und wurden dort zertreten. Die Infanteristen zogen erneut die Sehnen ihrer Bögen durch, und weitere Pfeile flogen dem Feind entgegen und brachten ihm neuerliche Verluste ein.
Die Nichtmenschen bezogen in einer langen Reihe Aufstellung und umzingelten die Truppen Faides. Der Lord gab der Hälfte seiner Ritter die Anweisung, die rückwärtige Flanke zu sichern.
Als das Erste Volk noch näher herankam, befahl Lord Faide den Angriff. Die Ritter traten mutig vor und schwangen ihre Schwerter. Die Autochthonen blieben nach einigen weiteren Schritten stehen. Die schlaffe Rückenhaut blähte sich auf, und weißer Schaum spritzte aus den Schlitzen und umgab sie mit dichten Schwaden. Die Ritter verharrten unsicher, hieben in die nachgebende Masse, fanden jedoch kein Ziel. Immer höher türmte sich der Schaum, neigte sich dann nach vorn und zwang die Ritter dazu, in Richtung der Wagen zurückzuweichen. Fragend sahen sie Lord Faide an.
Der hob sein Schwert. »Schlagt euch den Weg zum Feind frei! Los!« Mit beiden Händen umfaßte er das Heft seiner langen Waffe und sprang in den Schaum. Er berührte etwas Festes, hieb blindlings darauf ein und drang weiter vor. Dann packte etwas seine Beine, und er verlor das Gleichgewicht und stürzte schwer zu Boden. Ein Dorn kratzte über seine Rüstung und suchte nach einer geeigneten Stelle, um sich in seinen Körper zu bohren. Unter dem Brustharnisch entdeckte er einen winzigen Spalt und stieß sofort zu. Der Lord fluchte, erhob sich auf Hände und Knie und kroch weiter. Große und harte Hände griffen nach ihm, und etwas Schweres senkte sich ihm auf die Schultern. Er schnappte nach Luft, doch der Schaum verklebte das Visier, und er drohte zu ersticken. Schließlich gelang es ihm, wieder ganz auf die Beine zu kommen, und er stolperte aus der weißen und purpurnen Masse heraus, während ihn noch zwei Nichtmenschen umklammerten. Er hatte sein Schwert verloren, aber er schaffte es, den Dolch zu ziehen. Die beiden Autochthonen ließen ihn los und wichen in den Schaum zurück. Lord Faide straffte sich. Aus dem Innern der klebrigen Masse erklangen dumpfe Schreie und das Klirren von Stahl. Einige Ritter wankten ins Freie, andere riefen um Hilfe. Lord Faide winkte ihnen zu. »Zurück! Die Teufel bringen unsere Gefährten um! Zurück in den Schaum und ins Zentrum!«
Er holte tief Luft, schloß die Hand fester um den Griff des Dolches und warf sich erneut in das klebrige Etwas hinein. Schemenhafte Gestalten näherten sich ihm. Er hieb mit den Fäusten um sich, stach mit dem Dolch zu, stolperte über eine Masse aus lebendem Gewebe. Er trat danach und berührte Metall. Daraufhin bückte er sich und griff nach einem Bein, doch es war schlaff und kraftlos. Nichtmenschen sprangen ihn von hinten an, und ein weiterer Dorn traf ins Ziel. Lord Faide stöhnte, biß die Lippen zusammen und drang weiter vor. Und kurz darauf befand er sich wieder im Freien.
Knapp fünfzig Rittern war es gelungen, sich einen Weg auf die Lichtung freizukämpfen. »Weiter!« rief Lord Faide. »Auf die Pferde!« Er wandte sich von seinem Wagen ab und schwang sich ebenfalls in den Sattel. Der Schaum schien zu brodeln und wogte näher. Lord Faide winkte. »Vorwärts im Galopp! Nach uns die Wagen – ins Freie!«
Und so ritten sie los und trieben die ängstlichen Pferde in den Schaum. Eine klebrig dichte weiße Nebelmasse schloß sich um sie, und Lord Faide glaubte zu spüren, wie die Hufe seines Rosses über Leichen hinwegpochten. Dann löste sich der Dunst auf. Die Wagen folgten, und daran schlossen sich die Infanteristen an, stürmten durch die Schneise, die die Karren im Schaum hinterlassen hatten. Sie alle kamen frei – bis auf die Ritter, die in der weißen Masse umgekommen waren.
Zweihundert Meter von der riesigen Schaumansammlung zügelte Lord Faide sein Pferd und sah zurück. Er hob die Faust und schüttelte sie zornig. »Meine Ritter, mein Wagen, meine Ehre! Ich werde eure Wälder verbrennen, euch ins Meer treiben, nicht eher ruhen, als bis ihr alle tot seid!« Er drehte sich um. »Kommt!« rief er den traurigen Überbleibseln seiner einstmals so stolzen Streitmacht zu. »Wir haben eine Niederlage erlitten. Wir ziehen uns zur Faidefeste zurück.«
VIII
Ebenso wie die Bastion Ballants war Faidefeste aus einem glänzenden schwarzen Baumaterial errichtet worden, das zur einen Hälfte aus Stein und zur anderen aus Metall bestand. Es widerstand Hitze, Strahlung und selbst den stärksten Stößen. Das gewölbte Dach (es war so konstruiert, um feindliche Energien abzuwehren) ruhte auf fünf quadratischen Türmen, und die Mauern reichten fast bis zum Rande des Daches empor.
Die Heimkehrer versammelten sich im Bankettsaal, doch es herrschte allseits Niedergeschlagenheit. Die Soldaten und Ritter hatten großen Appetit und tranken auch viel, doch sie wurden nicht etwa fröhlich, sondern noch schwermütiger. Lord Faide konnte die Stimmung nicht länger ertragen und sprang auf. »Niemand spricht ein Wort, und alle beben vor Zorn. Mir geht es nicht anders. Wir werden uns rächen. Wir brennen die Wälder nieder. Die verdammten bleichen Wilden sollen es noch bitter bereuen, uns angegriffen zu haben. Trinkt und lacht und freut euch darauf, bald Vergeltung üben zu können! Doch bevor es dazu kommt, müssen wir Vorbereitungen treffen. Es wäre sinnlos, noch einmal auf die gleiche Weise gegen den Feind vorzugehen. Noch heute abend berate ich mich mit den Unglücksbringern, und morgen wird aus unserem Kummer ein Plan erwachsen.«
Die Soldaten und Ritter standen auf, hoben ihre Becher und prosteten ihrem Herrn ernst zu. Lord Faide verneigte sich kurz und verließ den Saal.
Er begab sich in sein privates Trophäenzimmer. An den Wänden hingen Wappen, Gedenktafeln, Totenmasken und zu Bündeln angeordnete Schwerter, die aussahen wie die Blütenblätter exotischer Blumen. Er betrachtete das Waffengestell mit den Energiepistolen und elektrischen Messern. Er betrachtete auch das Porträt des ersten Faide: ein Mann, der die Uniform eines Raumfahrers trug. Und daneben hing ein Foto, das in seiner Einzigartigkeit einem Schatz gleichkam. Es zeigte das große Raumschiff, mit dem der erste Faide nach Pangborn gekommen war.
Eine ganze Zeit lang ruhte der Blick des Lords auf den Zügen seines Ahnen, und dann rief er einen Diener herbei. »Bitte den Obersten Unglücksbringer zu mir!«
Es dauerte nicht lange, und Hein Huss wankte ins Zimmer. Lord Faide wandte sich von dem Bild ab, setzte sich und forderte Huss dazu auf, ebenfalls Platz zu nehmen. »Was ist mit den Lords der anderen Festen?« fragte er. »Was halten sie von dem Sieg, den das Erste Volk über uns errang?«
»Nun, es gibt verschiedene Reaktionen«, erwiderte Hein Huss. »In Boghoten, Candelwade und Havve herrschen Zorn und Bestürzung.«
Lord Faide nickte. »Dort wohnen meine Verwandten.«
»In Gisborne, Graymar, Wolkenschloß und Alder nahm man die Nachricht von unserer Niederlage mit Befriedigung zur Kenntnis, und einige Leute hoffen dort auf eine Chance, sich uns gegenüber durchsetzen zu können.«
»Das war nicht anders zu erwarten«, brummte Lord Faide. »Jene Lords müssen zur Ordnung gerufen werden. Trotz all der Schwüre und Bürgschaften spielen sie offenbar noch immer mit dem Gedanken an eine Rebellion.«
»In Sternenheim, Julian-Douray und Eichensaal registrierte ich Überraschung angesichts der Fähigkeiten des Ersten Volkes. Doch sonst ist man dort gleichgültig und desinteressiert.«
Lord Faide nickte ernst. »Dann ist die Situation noch nicht ganz so schlimm, wie ich befürchtete. In naher Zukunft brauchen wir nicht mit einem Aufstand zu rechnen, und das bedeutet, wir können uns ganz auf das Erste Volk konzentrieren. Ich habe mir in dieser Hinsicht einiges durch den Kopf gehen lassen. Sie berichteten, daß zwischen den Dichtwäldern, Sarrowbusch, dem Alten Wald und auch anderenorts neue Pflanzungen angelegt werden – vermutlich mit der Absicht, Faidefeste zu isolieren.« Der Lord bedachte Hein Huss mit einem fragenden Blick, doch der Unglücksbringer gab keine Antwort. Deshalb fuhr Faide nach einer kurzen Pause fort: »Mir scheint, wir haben die Schläue der Wilden unterschätzt. Offenbar sind sie dazu in der Lage, Pläne zu entwickeln und mit einer Beharrlichkeit zu handeln, die fast der menschlichen entspricht. Möglicherweise sind sie uns in dieser Hinsicht sogar überlegen, denn obgleich inzwischen eintausendsechshundert Jahre vergangen sind, sehen sie in uns noch immer Invasoren und wollen uns deshalb auslöschen.«
»Zu diesem Schluß bin ich ebenfalls gelangt«, bestätigte Hein Huss.
»Wir müssen dringend etwas unternehmen. Und ich glaube, in diesem Zusammenhang kommt den Unglücksbringern eine besondere Rolle zu. Wir gewinnen keine Ehre, indem wir uns vor Wespen verstecken, in Gruben fallen und durch Schaum stolpern. Auf diese Weise wird nur das Leben unserer Kämpfer verschwendet. Deshalb möchte ich, daß Sie Ihre Magier, Thaumaturgen und Kabbalisten versammeln. Sie sollen ihren
wirkungsvollsten Zauber einsetzen, um…«
»Unmöglich!«
Lord Faides schwarze Augenbrauen kamen in die Höhe. »Unmöglich?«
Hein Huss schien ein wenig nervös zu werden. »Ich kann mir vorstellen, warum Sie so erstaunt sind. Sie argwöhnen, ich sei nicht interessiert und wolle keine Verantwortung auf mich nehmen. Aber Sie irren sich. Wenn die Autochthonen Sie besiegen, bedeutet das auch eine Niederlage für uns.«
»Genau«, pflichtete ihm Lord Faide bei. »Dann müssen Sie nach einer anderen Möglichkeit Ausschau halten, Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.«
»Trotzdem können Ihnen die Unglücksbringer nicht helfen.« Hein Huss stand auf und wandte sich der Tür zu.
»Setzen Sie sich!« sagte Lord Faide. »Ich halte es für notwendig, die Unterredung fortzuführen.«
Hein Huss musterte den Lord aus seinen großen kristallklaren Augen, und Faide hielt seinem Blick stand. Daraufhin seufzte der Oberste Unglücksbringer. »Ich schätze, es bleibt mir keine andere Wahl, als vorübergehend die Prinzipien meiner Zunft zu vergessen und mich damit über die Tradition eines ganzen langen Lebens hinwegzusetzen. Mit anderen Worten: Ich muß Ihnen etwas erklären.« Er schnaufte, als er an die Wand herantaumelte, sich an dem Waffengestell festhielt und das Bild des Faide-Ahnen betrachtete. »Jene Wundermacher von damals – leider können wir ihre Magie nicht nutzen! Sehen Sie sich nur einmal die Masse des Raumschiffes an! Es muß mindestens so schwer gewesen sein wie ganz Faidefeste.« Er drehte sich um und richtete seinen Blick wieder auf den Tisch. Er konzentrierte sich kurz auf einen Kerzenständer und versetzte ihn telekinetisch um einige Zentimeter. »Es kostete sie weitaus weniger Mühe als das, um das riesige Raumschiff auf eine enorme Geschwindigkeit zu beschleunigen, und sie gebrauchten dabei Konzepte und Kräfte, von denen sie wußten, daß sie irrational und unfaßbar sind. Seit damals haben wir natürlich große Fortschritte gemacht. Wir geben uns keinen Mysterien mehr hin, befassen uns auch nicht mit der Konstruktion geheimnisvoller Apparaturen, die nur mit Kräften funktionieren, die sich dem menschlichen Verständnis entziehen. Wir sind rational und praktisch geworden – und doch sehen wir uns außerstande, die Leistungen der alten Magier zu vollbringen.«
Lord Faide beobachtete Hein Huss aus seinen dunklen Augen. Der Unglücksbringer lachte brummend und grollend. »Glauben Sie, ich wollte Sie mit diesen Worten nur ablenken? Nein, das ist nicht der Fall. Ich bin bereit, Sie einzuweihen.« Er kehrte an den Tisch zurück und nahm ächzend Platz. »Ich muß jetzt ziemlich viel reden, und daran bin ich nicht gewöhnt. Aber Sie sollen verstehen, was wir Unglücksbringer bewerkstelligen können und wo unserer Unheilskunst Grenzen gesetzt sind.
Zuerst einmal: Im Gegensatz zu den alten Magiern sind wir praktisch denkende Leute. Natürlich gibt es Unterschiede, was die individuellen Fähigkeiten angeht. Der beste Unglücksbringer hat nicht nur ein ausgeprägtes telepathisches Potential, sondern auch eine unerschütterliche Persönlichkeit und profundes Wissen in bezug auf seine Mitmenschen. Er kennt ihre Verhaltensweisen, ihre Wünsche und Beweggründe,auch ihre Ängste. Er versteht die Symbole, die all jene Charakteristiken repräsentieren. In der Hauptsache ist die Anwendung der Unheilskunst enorm anstrengende Arbeit – gefährlich, schwierig und unromantisch –, und es gibt dabei keine anderen Geheimnisse als die, die wir nützen, um unsere Feinde zu verwirren.« Hein Huss sah den anderen Mann kurz an und begegnete dabei erneut dem dunklen Blick Lord Faides.
»Ja, ich weiß, eigentlich habe ich noch immer nichts gesagt und nur viele Worte verloren, die jedoch keineswegs erklären, warum ich nichts unternehmen kann, um das Erste Volk in Schwierigkeiten zu bringen, Geduld, Geduld.«
»Fahren Sie fort!« bat Lord Faide.
»Hören Sie gut zu! Was geschieht, wenn ich einen Menschen behexe? Zunächst muß ich telepathisch in sein Bewußtsein eindringen. Es gibt drei mögliche Beeinflussungsebenen: die bewußte, die unbewußte, und die zellulare. Der Einsatz der Unheilskunst ist dann besonders wirksam, wenn Einfluß auf alle drei Ebenen genommen wird. Ich taste mich in das Opfer hinein und bringe soviel wie möglich von ihm in Erfahrung, was zur allgemeinen Routine meines Berufs gehört. Ich nehme seine Puppe, die mit seinen Haaren oder anderen persönlichen Dingen ausgestattet ist. Ein solches Simulacrum kann recht nützlich sein, doch unbedingt erforderlich ist es nicht. Es fungiert als eine Art Fokus für meine Aufmerksamkeit, als ein Wegweiser, der mich in den Geist des Betreffenden führt, während ich mich darauf konzentrierte. Die Bindung des Opfers an die Puppe erfolgt durch seine eigenen telepathischen Energien.
Nun gut! In meiner Vorstellung sind Mensch und Puppe identisch, ebenso in einer oder mehr Bewußtseinsebenen der Person, die ich zu beeinflussen versuche. Was auch immer mit dem Simulacrum geschieht: Das Opfer empfindet alles so, als stieße es ihm selbst zu. Darauf beschränkt sich das einfache Behexen, zumindest vom Standpunkt der Unglücksbringer aus gesehen. Aber natürlich gibt es von Mensch zu Mensch große Unterschiede. Ich nenne hier Reizbarkeit und Anfälligkeit als Stichworte. Einige Personen sind empfindlicher und sensiblerals andere, und als Gründe dafür können diverse Ängste und konditionierende Vorstellungen genannt werden. Je mehr Erfolg ein Unglücksbringer hat, desto mehr wird er gefürchtet, und entsprechend nehmen seine Einflußmöglichkeiten zu. Es ist eine Spirale, die sich immer weiter in die Höhe dreht.
Mit dem Erzeugen einer dämonischen Besessenheit ist es ähnlich. Auch hier spielt die Empfänglichkeit die wichtigste Rolle. Und erneut sind es Ideen und Konzepte, die Sensibilität bewirken. Besonders einfach und anschaulich wird der Prozeß dann, wenn die Eigenschaften des Dämonen gut bekannt sind, wie zum Beispiel bei Comandores Keyril. Aus diesem Grund können Dämonen auch zwischen den Unglücksbringern ausgetauscht werden. Bei solchen Handelsgeschäften geht es in erster Linie darum, welchen Ruf die Entitäten genießen, welche Furcht sie erwecken.«
»Dann gibt es eigentlich also gar keine Dämonen?« fragte Lord Faide erstaunt und ungläubig.
Hein Huss grinste breit und offenbarte dabei große gelbe Zähne. »Die Kraft der Telepathie entfaltet sich in einer ätherischen Ebene. Wer weiß, was dort geschaffen wird? Vielleicht genügt die Beschwörung eines Teufelswesens, um ihm echtes Leben zu verleihen. Vielleicht sind sie erst durch uns real geworden. Dabei handelt es sich natürlich um Spekulationen, von denen wir Unglücksbringer nichts halten.
Nun, soviel zu Dämonen und den einfacheren Techniken der Unheilskunst. Ich glaube, ich habe Ihnen genug davon erläutert. Nutzen Sie das Wissen als Bewertungshintergrund für die derzeitige Situation.«
»Ausgezeichnet«, sagte Lord Faide. »Fahren Sie fort!«
»Die Frage lautet also: Wie soll man ein völlig fremdartiges Geschöpf behexen?« Hein Huss richtete den Blick auf Faide. »Wissen Sie eine Antwort darauf?«
»Ich?« erwiderte Lord Faide überrascht. »Nein.«
»Im Grunde genommen ähnelt die Methode dem Verhexen von Menschen. Es kommt darauf an, das betreffende Geschöpf durch und durch, bis auf die zellulare Ebene, davon zu überzeugen, daß es Qualen erleidet oder ihm der Tod droht. Und genau darin liegt das Problem. Denkt das Wesen? Anders ausgedrückt: Nimmt es alle Lebensvorgänge auf die gleiche Weise wahr wie Menschen? Dieser Punkt ist sehr wichtig. Es gibt Geschöpfe, die ihre Umwelt nicht mit Hilfe eines Nervensystems in unserem Sinne strukturieren und zu Erkenntnisprozessen verarbeiten. Für das menschliche System haben wir den Begriff ›Intelligenz‹ geprägt; das ist eine Bezeichnung, die allein für unser Handeln verwendet werden sollte. Andere Geschöpfe nutzen Systeme, die sich vom unsrigen unterscheiden, oftmals mit dem gleichen Resultat. Nun, um diese allgemeinen Bemerkungen auf einen praktischen Nenner zu bringen: Ich sehe mich außerstande dazu, mein Bewußtsein mit der beim Ersten Volk üblichen Entsprechung zu verschmelzen. Der Schlüssel, den ich vorhin einmal erwähnte, paßt gewissermaßen nicht ins Schloß. Zumindest nicht ganz. Einige Male, zum Beispiel bei Zusammenkünften aus Anlaß des Waldmarktes, hatte ich Gelegenheit, das Erste Volk zu beobachten, und dabei offenbarten sich mir diffuse Bedeutungseindrücke. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß die Autochthonen zu einer geistigen Aktivität in der Lage sind, die man mit menschlichen telepathischen Impulsen vergleichen könnte. Trotzdem: Es gibt praktisch keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und uns.
Und genau darin besteht das Hauptproblem. Selbst wenn es mir gelänge, einen mentalen Kontakt herzustellen – was dann? Die Nichtmenschen sind anders als wir. Sie haben keine Worte für Konzepte wie Furcht, Haß, Wut, Schmerz, Mut, Feigheit. Ich nehme an, solche Gefühle sind ihnen unbekannt. Zweifellos haben sie dafür andere Gefühle, die eine ähnlich wichtige Rolle spielen. Doch worin auch immer die bestehen mögen: Ich kenne sie nicht, und deshalb kann ich sie weder nachempfinden noch Symbole für sie entwickeln.«
Lord Faide rutschte unruhig hin und her. »Kurz gesagt: Sie teilen mir mit, daß Sie nicht in das Bewußtsein der Wilden eindringen können. Und wenn Ihnen das doch möglich wäre, hätten Sie nicht die Möglichkeit, so Einfluß zu nehmen, um etwas gegen sie auszurichten.«
»Das ist im Prinzip richtig«, bestätigte Hein Huss.
Lord Faide stand auf. »In dem Fall müssen Sie schleunigst dafür sorgen, daß jene Barrieren überwunden werden. Lernen Sie, eine telepathische Verbindung mit dem Ersten Volk herzustellen. Finden Sie heraus, auf welche Weise man Einfluß auf die verdammten Wilden ausüben kann. Und zwar so schnell wie möglich.«
Hein Huss bedachte den Lord mit einem vorwurfsvollen Blick. »Und ich habe mir solche Mühe gegeben, Ihnen alles zu erklären! Das Behexen der Nichtmenschen ist eine gewaltige Aufgabe! Es wäre notwendig, in die Dichtwälder zu ziehen und beim Ersten Volk zu leben, in gewisser Weise zu einem Autochthonen zu werden – so wie mein Novize einmal versuchte, sich in einen Baum zu verwandeln. Und selbst dann halte ich es für unwahrscheinlich, daß entsprechende Bemühungen den gewünschten Erfolg hätten! Das Erste Volk müßte bestimmte menschliche Vorstellungen teilen, die konditionierenden Konzepte, die ich vorhin schon einmal nannte! Andernfalls gäbe es keine Grundlage für Verhexungen, und ich wäre sicher, daß alle unsere Bemühungen erfolglos bleiben. Kein anderer Unglücksbringer brächte den Mut auf, Ihnen das zu sagen und dadurch einen Verlust seines Mana zu riskieren. Ich wage es nur deshalb, weil ich Hein Huss und bereits alt bin.«
»Dennoch sollten wir es mit allen Waffen versuchen, die uns zur Verfügung stehen«, erwiderte Lord Faide entschlossen. »Ich muß sicherstellen, daß keine weiteren Ritter, Soldaten und Verwandte im Kampf gegen das bleiche Gewürm ums Leben kommen. Was ist es doch für eine Schande, von giftigen Insekten umgebracht zu werden! Gehen Sie in den Dichtwald! Bringen Sie in Erfahrung, wie man das Erste Volk behexen kann!«
Hein Huss erhob sich ebenfalls. Der Ausdruck seines großen runden Gesichts war steinern, und der Blick seiner sonst so kristallklaren Augen hatte sich getrübt. »Es kommt ebenfalls einer Schande gleich, wenn der Oberste Unglücksbringer für einen Narren gehalten und in den sicheren Tod geschickt wird. Ich bin kein Narr, und ich habe nicht die Absicht, eine Behexung zu versuchen, von der ich schon jetzt weiß, daß sie unmöglich ist.«
»In dem Fall«, entgegnete Lord Faide, »muß ich jemand anders finden.« Er trat an die Tür heran und rief einen Diener herbei. »Bring Isak Comandore zu mir!«
Hein Huss ließ sich wieder nieder und schnaufte. »Mit Ihrer Erlaubnis: Ich möchte bleiben, bis die Unterredung vorbei ist.«
»Wie Sie wünschen.«
Kurz darauf traf Isak Comandore ein: hochgewachsen und gelenkig, mit hin und her baumelndem Kopf. Er bedachte sowohl den Lord als auch Hein Huss mit einem kurzen abschätzenden Blick und kam herein.
Mit knappen Worten erklärte ihm Lord Faide, worum es ging. »Hein Huss weigert sich, den Auftrag anzunehmen. Deshalb wende ich mich an Sie.«
Isak Comandore überlegte, und es war natürlich klar, was ihm dabei durch den Kopf ging. Er hatte einerseits die Möglichkeit, viel Mana zu gewinnen. Andererseits existierte ein – wenn auch kleines – Risiko der Verringerung, denn immerhin hatte es Huss für klug gehalten, das Anliegen des Lords zurückzuweisen. Comandore nickte. »Hein Huss hat bereits die Schwierigkeiten eines derartigen Unterfangens erläutert. Nur ein sehr kluger und geschickter Unglücksbringer kann auf einen Erfolg hoffen. Ich stelle mich dieser Herausforderung und bin bereit, mich auf den Weg zu machen.«
»Gut«, sagte Hein Huss. »Ich begleite Sie.« Isak Comandore warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Ich möchte nur beobachten, was geschieht. Isak Comandore trägt die ganze Verantwortung, und wenn es ihm gelingt, den Auftrag durchzuführen, so gebührt ihm die gesamte Ehre.«
»In Ordnung«, entgegnete Comandore und nickte bestätigend. »Ich freue mich über Ihre Gesellschaft. Morgen früh brechen wir auf. Ich gehe jetzt, um den Wagen vorzubereiten.«
Später am Abend betrat Sam Salazar das Arbeitszimmer und wandte sich an den grübelnden Hein Huss. »Was willst du?« brummte Huss.
»Ich möchte Sie um etwas bitten, Oberster Unglücksbringer Huss.«
»Das bin ich nur mehr dem Namen nach«, grollte Hein Huss. »Isak Comandore wird bald Anspruch auf diesen Titel erheben.«
Sam Salazar zwinkerte und lachte unsicher. Hein Huss blickte ihn aus winterlich grauen Augen an. »Was führt dich hierher?«
»Ich habe gehört, daß Sie in den Dichtwald ziehen wollen, um zu versuchen, das Erste Volk besser zu verstehen.«
»In der Tat, das ist wahr. Und?«
»Bestimmt greift es doch nicht alle Menschen an, oder?«
Hein Huss zuckte mit den Schultern. »Beim Waldmarkt handeln sie mit uns. Bei solchen Gelegenheiten konnten Menschen den Wald betreten, ohne Fallen befürchten zu müssen. Vielleicht hat sich das inzwischen geändert, vielleicht auch nicht.«
»Ich würde gern mitkommen, wenn Sie erlauben«, sagte Sam Salazar.
»Dieses Unternehmen ist zu gefährlich für Novizen.«
»Ein Novize muß jede Möglichkeit nutzen, um zu lernen«, erwiderte Sam Salazar. »Außerdem könnten Sie bestimmt Hilfe brauchen, um die Zelte zu errichten, Kisten zu entladen, Schränke und Kommoden in Ordnung zu halten – und natürlich auch beim Kochen, Wasserholen und anderen einfachen Arbeiten.«
»Deine Argumente überzeugen mich«, sagte Hein Huss. »Wir brechen beim Morgengrauen auf. Sei bereit!«
Als die Sonne aufging, verließen die Unglücksbringer Faidefeste. Die hohen Räder des Wagens rollten knarrend übers Moos. Hein Huss und Isak Comandore saßen vorn, und Sam Salazar ließ die Beine über den hinteren Rand baumeln. Wenn sie Unebenheiten im grünen Untergrund passierten, neigte sich der Wagen weit nach rechts oder links, und die Achsen ächzten. Es dauerte nicht lange, und sie brachten den Himmelsstarrerhügel hinter sich. Faidefeste geriet außer Sicht.
Fünf Tage später, eine Stunde vor Sonnenuntergang, kehrte der Wagen zurück. Wie zuvor saßen Hein Huss und Isak Comandore auf dem Bock, und Sam Salazar hockte weiter hinten. Sie näherten sich der Bastion, und ohne anzuhalten oder irgendein Zeichen zu geben, fuhren sie durchs Tor und auf den Hof.
Isak Comandore streckte die langen Beine, und wie eine Spinne stieg er aus. Hein Huss folgte ihm schnaufend. Beide Unglücksbringer zogen sich in ihre Quartiere zurück, und Sam Salazar brachte den Wagen in den Unterstand.
Später meldete sich Isak Comandore bei Lord Faide, der in seinem Trophäenzimmer wartete und aufgrund seines hohen Ranges und des allgemeinen Protokolls dazu gezwungen war, sich gleichgültig und würdevoll zu geben. Isak Comandore blieb in der Tür stehen und grinste wie ein Fuchs. Lord Faide musterte ihn mit deutlich sichtbarem Unwillen und wartete darauf, daß der Unglücksbringer zu sprechen begann. Hein Huss hätte sich den ganzen Tag über nicht vom Fleck gerührt und den Lord einfach nur stumm angesehen, aber Isak Comandore mangelte es an der nötigen Gelassenheit. Er trat einen Schritt vor. »Ich bin aus dem Dichtwald zurück.«
»Und mit welchem Ergebnis?«
»Ich glaube, es ist möglich, das Erste Volk zu behexen.«
Hinter Isak Comandore erklang die Stimme Hein Huss’. »Und ich glaube: Selbst wenn sich so etwas bewerkstelligen ließe – entsprechende Bemühungen wären nicht nur vergeblich und verantwortungslos, sondern vermutlich auch gefährlich.« Er wankte näher heran.
In den Augen Isak Comandores glühte es kastanienfarben, als er Huss kurz ansah. Dann richtete er seinen Blick wieder auf den Lord. »Sie gaben mir einen Auftrag. Ich bin gekommen, um Bericht zu erstatten.«
»Setzen Sie sich! Ich höre.«
Als nomineller Leiter der Expedition ergriff Isak Comandore das Wort. »Wir fuhren am Fluß entlang zum Waldmarkt. Dort stießen wir auf keine Anzeichen für Tumulte oder Feindseligkeit. Etwa hundert Autochthone waren zugegen, und sie tauschten Latten, Bretter und Pfähle gegen Messerklingen, Draht und Kupfertöpfe. Als sie auf ihren Kahn zurückkehrten, gingen wir ebenfalls an Bord, mitsamt dem Wagen und den Pferden. Die Nichtmenschen schienen nicht überrascht zu sein…«
»Überraschung ist ein Gefühl«, warf Hein Huss schnaufend ein, »für das es beim Ersten Volk keine Entsprechung gibt.«
Erneut blitzte es in den Augen Isak Comandores auf. »Wir sprachen mit den Schiffern und erklärten, es sei unser Wunsch, in den Dichtwald zu ziehen. Wir fragten das Erste Volk, ob es versuchen würde, uns zu töten, um uns daran zu hindern, in den Wald zu gelangen. Doch die Nichtmenschen reagierten mit Gleichgültigkeit, schienen an unserem Tod ebensowenig interessiert zu sein wie an unserem Wohlergehen. Dennoch entschlossen wir uns, die Reise zu wagen, und blieben an Bord des Kahns.« Er fuhr mit der Erzählung fort, und gelegentlich korrigierte Hein Huss seine Bemerkungen.
Über den Fluß setzten sie die Fahrt in Richtung des Dichtwaldes fort, und die Autochthonen benutzten hölzerne Stangen, um ihr Boot durch die langsame Strömung zu lenken. Nach einer Weile legten sie sie beiseite, und dennoch blieb der Kahn in Bewegung. Die erstaunten Unglücksbringer erwogen die Möglichkeit einer Anwendung von telekinetischen und symbologischen Kräften, und sie fragten sich, ob das Erste Volk eine Unheilstechnik entwickelt hatte, die den Menschen unbekannt war. Doch Sam Salazar bemerkte, daß vier riesige Wasserkäfer (jeder war vier Meter lang und mit einem öligschwarzen Rückenschild ausgestattet, und sie hatten breite und kantige Schädel) aufgetaucht waren und das Boot schoben, offenbar ohne Anleitung und Richtungshinweise des Ersten Volkes. Die Autochthonen standen vorn und richteten den Bug des Schiffes neu aus, wenn der Fluß voraus einen weiten Bogen beschrieb. Sie schenkten den Unglücksbringern und Sam Salazar nicht die geringste Beachtung, verhielten sich ganz so, als seien sie gar nicht zugegen.
Die Käfer schwammen unermüdlich, und vier Stunden lang bewegte sich der Kahn mit der Geschwindigkeit eines Fußgängers, der es sehr eilig hatte. Gelegentlich waren im Schatten des Waldes weitere Nichtmenschen zu sehen, doch niemand von ihnen offenbarte Interesse an der ungewöhnlichen Fracht des Bootes. Am späten Nachmittag verbreiterte sich der Fluß, teilte sich anschließend in einzelne Kanäle auf, an die sich sumpfiges Gelände anschloß. Einige Minuten später erreichte der Kahn einen kleinen See. Am Ufer, hinter den ersten Bäumen, bemerkten die Unglücksbringer eine große Siedlung. Bisher hatten die Menschen immer angenommen, die Autochthonen führten im Wald ein ebensolches Nomadenleben wie zuvor im Hügelland, ohne sich jemals für längere Zeit irgendwo niederzulassen.
Der Kahn steuerte das Ufer an, und das Erste Volk ging an Land. Die Menschen folgten mit ihrem Wagen und den Pferden. Nach ihrem ersten Eindruck hielten sich erstaunlich viele Eingeborene an diesem Ort auf, und es schien eine zwar langsame, aber doch unablässige Aktivität zu herrschen. Außerdem wehte ihnen ein abscheulicher Gestank entgegen.
Isak Comandore und seine beiden Begleiter ignorierten jenen abstoßenden Geruch, fuhren den Wagen heran und sahen sich um. Offenbar handelte es sich bei der Siedlung um das Zentrum sowohl reger als auch vielgestalter Betriebsamkeit. Die unteren Zweige der Bäume waren abgetrennt worden und stützten hundert Meter lange, zwanzig Meter breite und rund sechs Meter dicke Blöcke aus schwarzem gehärteten Schaum. Zwischen dem Boden und den riesigen Gebilden verblieb so viel Platz, daß ein Mensch aufrecht unter den Objekten hätte stehen können. Insgesamt gab es ein Dutzend davon, und ihre Struktur wirkte zellular. Einige der einzelnen Module waren geöffnet worden, und darin wanden sich fischartige Wesen hin und her – die Nachkommen des Ersten Volkes.
Jenseits der langen Blöcke gingen die Autochthonen verschiedenen Arbeiten nach, und die meisten davon ergaben für die Unglücksbringer keinen Sinn. Sie ließen den Wagen in der Obhut Sam Salazars zurück und mischten sich unter die Eingeborenen, angewidert zwar von dem Gestank und dem wimmelnden Durcheinander, doch voller Neugier. Niemand sprach sie an. Niemand hielt sie auf. Frei wanderten sie in der Siedlung umher. Ein Bereich stellte offenbar so etwas wie einen Zoo dar, und er war in einzelne Abschnitte unterteilt. Einer davon – ein etwa sechzig Meter langer Streifen – erfüllte eine Funktion, die Hein Huss und Isak Comandore nicht mißverstehen konnten. Am Ende hing die Leiche eines Menschen an einem Seil – es handelte sich um einen der Männer, die beim Kampf in der Nähe der neuen Pflanzung ums Leben gekommen waren. Einige Wespen flogen geradewegs auf den Leichnam zu, doch unmittelbar davor wurden sie von Netzen abgefangen und fortgebracht. Manche schwirrten fort und sausten den Autochthonen entgegen. Jene Insekten fing man ebenfalls in Netzen, doch anschließend tötete man sie.
Am Zweck dieser Aktivität konnte kein Zweifel bestehen. Als die beiden Unglücksbringer daraufhin über bestimmte andere Tätigkeiten nachdachten, sahen sie sich dazu imstande, einige von den Dingen zu verstehen, die ihnen bis dahin rätselhaft erschienen waren.
Sie sahen mit sägezahnähnlichen Greifzangen ausgestattete, hundegroße Käfer, die Objekte angriffen, die aussahen wie Pferde. In anderen Gehegen entdeckten sie Insekten mit noch groteskeren Ausmaßen: lang und schmal, der Körper mehrfach unterteilt, mit Dutzenden von Beinen und alptraumhaften Köpfen. Alle diese Wesen – Wespen, Käfer und Tausendfüßler
– ließen sich im Wald finden, doch die frei lebenden Geschöpfe waren wesentlich kleiner. Ganz offensichtlich befaßte sich das Erste Volk schon seit vielen Jahren, vielleicht seit Jahrhunderten, mit einer selektiven Zucht.
Nicht alle Unternehmungen dienten kriegerischen Zwecken. Motten wurden darauf dressiert, Nüsse zu sammeln, und Würmern brachte man bei, gerade Löcher durchs Holz zu bohren. An einer anderen Stelle stellten Raupen eine gelbliche Masse her und formten sie zu kleinen Kugeln. Der größte Teil des widerlichen Gestanks stammte vom Zoo. Bereits nach kurzer Zeit wandten sich die beiden Unglücksbringer von den Gehegen ab und kehrten zum Wagen zurück. Sam Salazar baute das Zelt auf und entzündete ein Feuer, während Isak Comandore und Hein Huss über das sprachen, was sie in der Siedlung gesehen hatten.
Kurz darauf ging der Tag zu Ende, und die Nacht begann. Die Blöcke aus schwarzem Schaum glühten von innen heraus, und die allgemeine Aktivität des Ersten Volkes setzte sich fort. Die Unglücksbringer zogen sich ins Zelt zurück und schliefen, und Sam Salazar hielt Wache.
Am nächsten Tag gelang es Hein Huss, mit einem der Autochthonen zu sprechen. Es war das erste Mal, daß das Erste Volk auf die Gegenwart der drei Menschen reagierte.
Die Diskussion dauerte ziemlich lange, und Hein Huss faßte sie Lord Faide gegenüber auf das Wesentliche zusammen. (Isak Comandore wandte sich ab und demonstrierte damit, daß ihn diese Sache nicht betraf.)
Zunächst einmal sprach Hein Huss den Eingeborenen auf den Zweck der diversen Vorbereitungen an, auf die Wespen, Käfer, Tausendfüßler und die anderen Zuchtwesen.
»Unsere Absicht besteht darin, Menschen zu töten«, gab der Autochthone offen Auskunft. »Unser Ziel ist es, zum Moos zurückzukehren, und wir streben es an, seit die Menschen auf dieser Welt erschienen.«
Huss erwiderte daraufhin, eine solche Einstellung erachte er als recht kurzsichtig, denn immerhin gebe es auf Pangborn genug Platz sowohl für die Menschen als auch das Erste Volk. »Das Erste Volk«, so führte Hein Huss aus, »sollte seine Fallen entfernen und die Versuche einstellen, die Festen mit neuen Anpflanzungen zu isolieren.«
»Nein«, lautete die Antwort. »Menschen sind Eindringlinge. Sie verderben das prächtige Moos. Und deshalb müssen alle getötet werden.«
An dieser Stelle ergriff Isak Comandore das Wort. »Dabei fiel mir etwas Interessantes auf. Alle Eingeborenen in der Nähe stellten die Arbeit ein. Alle blickten uns an, so als nähmen auch sie an dem Gespräch teil. Ich bin dadurch zu der enorm wichtigen Schlußfolgerung gelangt, daß die Autochthonen keine Individuen in dem Sinne sind, sondern vielmehr Komponenten eines größeren Ganzen. Vermutlich stehen sie untereinander durch eine Kraft in Verbindung, die der unserer Telepathie ähnelt.«
Hein Huss fuhr ruhig fort: »Ich meinte, daß im Falle eines Angriffes auf uns viele Angehörige des Ersten Volkes ums Leben kämen. Mein Gesprächspartner zeigte sich davon völlig unbeeindruckt, und seine Erwiderung deutete auf das hin, was Unglücksbringer Comandore bereits nahelegte: ›In den Zellen warten mehr als genug, um die Plätze der toten Elemente einzunehmen.‹ Doch wenn die Gemeinschaft erkrankt, leiden alle. Wir sind in die Wälder abgedrängt und dazu gezwungen worden, ein ungewohntes Leben zu führen. Wir müssen uns bewaffnen und die Menschen vertreiben, und zu diesem Zweck haben wir uns die Methoden des Gegners zu eigen gemacht!«
»Es braucht wohl nicht eigens erwähnt zu werden«, ließ sich Isak Comandore vernehmen, »daß damit die Methoden der Ahnen gemeint sind und nicht etwa die unsrigen.«
»Wie dem auch sei«, bemerkte Lord Faide, »die Wilden lassen keinen Zweifel an ihren Absichten. Wir wären Narren, wenn wir sie nicht sofort angriffen, und zwar mit allen uns zur Verfügung stehenden Waffen.«
»Der Eingeborene hatte noch mehr zu sagen«, fuhr Hein Huss ungerührt fort. »›Wir haben den Nutzen der Irrationalität kennengelernt.‹ Es benutzte natürlich nicht dieses Wort, sondern sprach von ›einer Folge nur vage motivierter Handlungen‹. Ich glaube jedoch, daß meine Übersetzung der begrifflichen Intention des Autochthonen recht nahe kommt. Er fügte hinzu: ›Wir haben gelernt, unsere Umwelt zu verändern. Wir benutzen Insekten, Bäume, Pflanzen und Wasserschnecken. Für uns ist das eine enorme Anstrengung, denn eigentlich ziehen wir eine ruhige und gemütliche Existenz im Moos vor. Doch ihr Menschen habt uns dieses Leben aufgezwungen, und nun müßt ihr die Konsequenzen tragen.‹ Ich wies ihn erneut darauf hin, daß wir Menschen nicht hilflos seien und bei einem Kampf viele Angehörige des Ersten Volkes den Tod fänden. Doch der Eingeborene blieb unbesorgt. ›Die Gemeinschaft überlebt.‹ Daraufhin stellte ich ihm eine sehr heikle Frage. ›Wenn eure Absicht darin besteht, Menschen zu töten, warum bringt ihr dann nicht auch uns um?‹ Und der Autochthone erwiderte: ›Die ganze Gemeinschaft der Menschen wird ausgelöscht.‹ Offenbar glaubt das Erste Volk, unsere Gesellschaft sei ähnlich beschaffen wie die ihre. Möglicherweise nimmt es an, aus diesem Grund sei es nicht der Mühe wert, drei Einzelelemente zu töten.«
Lord Faide lachte grimmig. »Um uns alle zu erledigen, müßten die Wilden erst einmal an Höllenmaul vorbei und in Faidefeste eindringen. Und das schaffen sie nie.«
Isak Comandore hob den Kopf. »Zu jenem Zeitpunkt war ich bereits davon überzeugt, daß das Problem darin besteht, nicht etwa nur einzelne Individuen zu behexen, sondern ein ganzes Volk. Theoretisch sollte das nicht schwierig sein. Ob man nun zu einer Person spricht oder zu zwanzig – es erfordert die gleiche Kraft. Und daran dachte ich, als ich den Novizen beauftragte, Dinge zu sammeln, die in direktem Zusammenhang mit den Eingeborenen stehen: Hautschuppen, Schaum, Speichel, Ausscheidungen. Während er damit beschäftigt war, versuchte ich, eine Verbindung zu den Wesen herzustellen. Das ist nicht leicht, denn ihre telepathische Kraft entfaltet sich in einem anderen Äther als die, die wir nutzen. Dennoch hatte ich Erfolg – zumindest in einem gewissen Ausmaß.«
»Dann sind Sie also dazu imstande, das Erste Volk zu behexen?« fragte Lord Faide.
»Diese Frage kann ich erst dann beantworten, wenn ich es versucht habe. Zuvor müssen bestimmte Vorbereitungen getroffen werden.«
»Machen Sie sich sofort ans Werk!«
Comandore stand auf und warf Hein Huss noch einen kurzen Blick zu, bevor er das Zimmer verließ. Huss wartete und rieb sich mit dicken Fingern das Kinn. Lord Faide musterte ihn kühl. »Haben Sie noch etwas zu sagen?«
Huss brummte und stemmte sich in die Höhe. »Ich weiß nicht so recht. Ich bin ziemlich verwirrt. Alle Möglichkeiten, die die Zukunft bereithält, machen mir Sorgen. Vielleicht ist selbst die beste nicht gut genug für uns.«
Lord Faide sah Hein Huss überrascht an. Noch niemals zuvor hatte der Oberste Unglücksbringer so pessimistisch und düster klingende Worte benutzt. »Sprechen Sie frei heraus! Ich höre Ihnen aufmerksam zu.«
Und Hein Huss grollte: »Wenn ich mir in irgendeinem Punkt ganz sicher wäre, würde ich nicht zögern, mich an Sie zu wenden. Doch derzeit zweifle ich nur.
Ich fürchte, wir können uns nicht länger auf Logik und geschickte Unheilskunst verlassen. Unsere Ahnen waren Wundermacher, Magier. Sie verdrängten das Erste Volk in die Wälder. Und um uns zu schlagen, haben sich die Eingeborenen die Methoden unserer Vorfahren zu eigen gemacht: Versuche aufs Geratewohl, zielloser Empirismus. Ja, ich zweifle. Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als uns von der Vernunft abzuwenden und uns wieder auf den Mystizismus der Ahnen zu besinnen.«
Lord Faide zuckte mit den Schultern. »Wenn es Isak Comandore schafft, das Erste Volk zu behexen, so dürfte das nicht notwendig werden.«
»Die Welt verändert sich«, sagte Hein Huss dumpf. »Und von einem bin ich überzeugt: Die alten Zeiten, in denen es auf Geschick und mit aller Sorgfalt erworbenes Wissen ankommt, sind vorbei. Die Zukunft steht Leuten offen, die klug sind und deren Vorstellungskraft nicht von der Disziplin unserer Zunft beeinträchtigt wird. Der unorthodoxe Sam Salazar könnte einmal fähiger sein als ich. Ja, die Welt verändert sich.«
Lord Faide offenbarte das für ihn typische schiefe und verzerrte Lächeln. »Wenn jener Tag kommt, ernenne ich Sam Salazar zum Obersten Unheilsbringer und verleihe ihm gleichzeitig den Titel des Lords von Faidefeste. Und wir beide ziehen uns dann in eine Hütte im Hügelland zurück.«
Hein Huss hob die Arme, ließ sie schlaff fallen und ging.
IX
Zwei Tage später begegnete Lord Faide dem Unglücksbringer Isak Comandore und erkundigte sich nach den Fortschritten seiner Vorbereitungen. Comandore wich den Fragen mit allgemeinen Bemerkungen aus. Nach zwei weiteren Tagen wandte sich der Lord erneut an ihn, und diesmal bestand er auf genaueren Angaben. Widerstrebend führte Comandore ihn in sein Arbeitszimmer. Ein Dutzend Kabbalisten, Thaumaturgen und Novizen arbeiteten dort an einem großen Tisch und bauten ein Modell der Eingeborenen-Siedlung im Dichtwald.
»Am Ufer des Sees«, erklärte der Unglücksbringer, »stelle ich eine große Anzahl von Simulacren auf, die alle mit persönlichen Dingen des Ersten Volkes versehen sind. Und wenn es soweit ist, nehme ich die Behexung vor.«
»Gut. Enttäuschen Sie mich nicht.« Lord Faide verließ das Arbeitszimmer, begab sich in den höchsten Turm der Feste und von dort aus in die Kuppel, in der die alte Waffe Höllenmaul installiert war. »Jambart! Wo sind Sie?«
Der Waffenwart, ein kleiner und rotnasiger Mann mit dickem Bauch und bläulichen Wangen, eilte herbei. »Mein Lord?«
»Ich bin gekommen, um Höllenmaul zu inspizieren. Ist die Waffe zum sofortigen Einsatz bereit?«
»Selbstverständlich, mein Lord. Ich habe sie geölt, geschmiert, poliert, abgebürstet und entstaubt. Alle Teile sind völlig sauber und glatt.«
Mit gerunzelter Stirn trat Lord Faide an das Geschütz heran und betrachtete es eingehend – ein schwerer Zylinder, der knapp zweihundert Zentimeter durchmaß und fast vier Meter lang war. An der Außenfläche zeigten sich kleine Halbkugeln, die untereinander mit Röhren aus glänzendem Kupfer verbunden waren. Ganz offensichtlich war Jambart sehr fleißig gewesen. Nirgends zeigte sich auch nur eine Spur von Rostoder Schmutz. Überall schimmerte reines Metall. Eine dicke Metallplatte bedeckte die Mündung, und darauf hatte der Waffenwart eine Leinenplane gespannt. Der Ring, auf dem die große Waffe gedreht werden konnte, war gut geschmiert.
Lord Faide sah in alle vier Himmelsrichtungen. Im Süden erstreckte sich das Faidetal. Im Osten lag das Hügelland. Im Norden und Westen zeigten sich die dunklen Linien des Dichtwaldes.
Er wandte sich wieder Höllenmaul zu und gab vor, einen Ölfleck entdeckt zu haben. Völlig zerknirscht und nahezu am Boden zerstört bat Jambart um Vergebung. Lord Faide gab ihm den Rat, in Zukunft weniger nachlässig zu sein, und dann verließ er die Kuppel wieder und betrat kurz darauf das Arbeitszimmer Hein Huss’. Der Oberste Unglücksbringer lag auf einem Diwan und starrte an die Decke. An einer Werkbank stand Sam Salazar, umgeben von Flaschen, Kübeln und kleineren Gefäßen.
Lord Faide bedachte das Durcheinander mit einem finsteren Blick. »Was treibst du da?« fragte er den Novizen.
Sam Salazar sah verlegen auf. »Nichts Besonderes, mein Lord.«
»Wenn du nichts weiter zu tun hast, solltest du Isak Comandore helfen.«
»Ich bin keineswegs müßig, Lord Faide.«
»Und was tust du?«
Sam Salazar verzog das Gesicht und starrte auf die Werkbank. »Ich weiß nicht.«
»Dann bist du doch müßig!«
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe verschiedene Flüssigkeiten auf den Schaum hier gegossen. Er stammt vom Ersten Volk. Ich war ziemlich neugierig darauf, was geschehen würde. Wasser löst ihn ebensowenig auf wie Spiritus. Große Hitze versengt ihn und läßt ihn schwelen, und der dadurch aufsteigende Rauch stinkt.«
Lord Faide gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Du führst dich auf wie ein Kind, schlimmer noch: wie ein Narr. Geh zu Isak Comandore! Bei ihm kannst du dich nützlich machen. Glaubst du etwa, du würdest zu einem guten Unglücksbringer, indem du mit hart gewordenem Schaum herumspielst?«
Hein Huss brummte leise: eine Mischung aus Seufzen,Ächzen, Stöhnen und Räuspern. »Er stellt nichts Unrechtes an, und Comandore hat bereits genug Helfer. Salazar wird nie zu einem Unglücksbringer; das dürfte schon seit einer ganzen Weile klar sein.«
Lord Faide zuckte mit den Schultern. »Es ist Ihr Novize; Sie sind für ihn verantwortlich. Nun gut. Gibt es Neuigkeiten von den anderen Festen?«
Schnaufend und keuchend schwang Hein Huss die Beine über den Rand der Liege. »Die Lords machen sich ebenfalls Sorgen, mehr oder weniger. Ihre treuesten Verbündeten sind bereit, Ihnen Truppen zur Verfügung zu stellen – und vermutlich auch die anderen, wenn man sie ein wenig unter Druck setzt.«
Lord Faide nickte zufrieden. »Im Augenblick ist das nicht notwendig. Das Erste Volk befindet sich nach wie vor im Wald. Faidefeste ist natürlich uneinnehmbar – obwohl die Wilden versuchen könnten, das Tal zu erobern…« Nachdenklich hielt er inne. »Isak Comandore soll erst einmal seinen Behexungsversuch unternehmen. Dann sehen wir, weiter.«
Von der Werkbank her ertönte ein leises Zischen, gefolgt vom dumpfen Knall einer Explosion. Ätzender Rauch stieg an die Decke. Schuldbewußt drehte sich Sam Salazar um und sah die beiden Männer an. Seine Brauen waren versengt. Lord Faide schüttelte nur den Kopf und ging.
»Was hast du getan?« fragte Hein Huss tonlos.
»Ich weiß nicht.«
Daraufhin seufzte Huss schwer. »Lächerlich! Wenn du Wunder bewirken willst, mußt du dich an die einzelnen Schritte erinnern, die notwendig sind, sie hervorzurufen. Wundermacherei ist nicht mit der Unheilskunst zu vergleichen; es gibt dabei keine überschaubaren Regeln und Prozeduren. Bei so komplexen Angelegenheiten mußt du dir Notizen machen, auf daß die Wunder wiederholt werden können.«
Sam Salazar nickte einsichtig und wandte sich wieder der Werkbank zu.
X
Etwas später an jenem Tag trafen in Faidefeste Nachrichten über neue Gemeinheiten des Ersten Volkes ein. Im Bereich von Honigmooshügel, ein wenig weiter westlich von Waldmarkt, näherten sich einige Eingeborene dem Lager von Schäfern, und kaum waren sie eingetroffen, machten sie sich daran, mit Hilfe ihrer Dornschwerter die Schafe zu erstechen. Als die Schäfer sie zu vertreiben versuchten, wurden auch sie angegriffen, und viele von ihnen kamen ums Leben. Die Autochthonen brachten alle Tiere um.
Am nächsten Tag folgten weitere Berichte: Vier im Brastockfluß bei Gilbertfurt schwimmende Kinder waren von riesigen Wasserkäfern gepackt und in Stücke gerissen worden. Auf der anderen Seite des Dichtwaldes, in den Vorbergen unmittelbar unterhalb von Wolkenschloß, hatten Bauern einige Hügel gerodet und Weinreben angepflanzt. Früh am Morgen mußten sie die Feststellung machen, daß Hunderte von platten schwarzen Würmern die Pflanzen verschlangen – sowohl die Blätter und Zweige als auch die Wurzeln. Sie machten sich daran, die großen Würmer mit Spaten zu erschlagen – und wurden sofort von Wespen zu Tode gestochen.
Adam MacAdam setzte Lord Faide von diesen Zwischenfällen in Kenntnis, und der wandte sich aufgebracht an Isak Comandore. »Wie lange dauert es noch, bis Sie bereit sind?«
»Das ist schon jetzt der Fall. Doch bevor ich beginne, muß ich mich ausruhen und stärken. Morgen früh erfolgt die Behexung.«
»Je eher, desto besser. Die Wilden haben ihren Wald verlassen. Sie sind losgezogen und bringen Menschen um.«
Isak Comandore strich sich über das lange Kinn. »Damit mußten wir rechnen. Sie haben uns ja selbst gesagt, worin ihre Absicht besteht.«
Lord Faide ignorierte diese Bemerkung. »Zeigen Sie mir das Modell!«
Isak Comandore führte ihn ins Arbeitszimmer. Die Nachbildung der Siedlung war inzwischen fertig, und auch die vielen kleinen Puppen standen bereit, jede einzelne ausgestattet mit einem kleinen Brocken aus hart gewordenem Schaum. Der Unglücksbringer deutete auf einen Topf, der eine dunkle Flüssigkeit enthielt. »Ich möchte Ihnen die Grundlagen der morgigen Behexung erklären. Als ich in dem Dorf des Ersten Volkes weilte, hielt ich überall nach geeigneten Symbolen Ausschau. Natürlich gab es viele davon, aber ich wußte nicht so recht, für welche ich mich entscheiden sollte. Da erinnerte ich mich an etwas, das mir während des Kampfes bei der neuen Pflanzung auffiel. Als die Eingeborenen angegriffen und mit Feuer bedroht wurden, sprühten sie purpurnen Schaum aus ihren Schlitzen. Ganz offensichtlich versinnbildlicht die Farbe Purpur in der Vorstellungswelt des Ersten Volkes den Tod. Und die morgen erfolgende Behexung wird dieses Symbol nutzen.«
»Dann ruhen Sie sich gut aus, so daß Sie morgen auf der Höhe Ihrer Leistungskraft sind.«
Am folgenden Morgen kleidete sich Isak Comandore in eine lange schwarze Robe und setzte die Maske des Dämonen Nard auf, um gewappnet zu sein. Anschließend betrat er sein Arbeitszimmer und schloß die Tür.
Eine Stunde verging, dann zwei. Lord Faide saß mit seiner Familie am Frühstückstisch, und er gab sich alle Mühe, gleichmütig und ruhig zu wirken. In ihm aber brodelte es, und nach einer Weile konnte er sich nicht länger beherrschen und begab sich auf den Hof. Dort warteten die Helfer Comandores und waren bereits sichtlich nervös geworden. »Wo ist Hein Huss?« fragte Lord Faide. »Bestellt ihn zu mir!«
Kurz darauf wankte der Oberste Unglücksbringer heran. Lord Faide deutete auf die Tür des Arbeitszimmers Comandores. »Was geschieht dort drin? Hat er Erfolg?«
Hein Huss blickte in die entsprechende Richtung. »Er beschwört einen mächtigen Zauber. Ich spüre Verwirrung, Zorn…«
»In Comandore oder im Ersten Volk?«
»Ich weiß nicht genau, womit er beschäftigt ist. Aber ich glaube, es gelang ihm, eine Botschaft in das kollektive Bewußtsein der Eingeborenen zu projizieren. Ein sehr schwieriges Unterfangen, wie ich Ihnen bereits erläuterte. Und was das erste Stadium angeht, hat er auch Erfolg gehabt.«
»Das ›erste Stadium?‹ Welche anderen gibt es denn noch?«
»Ich denke dabei an die beiden wichtigsten Aspekte des Behexens: die Empfänglichkeit des Opfers und die Angemessenheit des Symbols.«
Lord Faide runzelte die Stirn. »Sie scheinen nicht sonderlich optimistisch zu sein.«
»Ich bin unsicher. Vielleicht hat Isak Comandore recht mit seiner Annahme. Wenn das stimmt und das Erste Volk tatsächlich empfänglich ist, so wird heute ein großer Sieg errungen, und das bedeutet, daß das Mana Comandores enorm wächst!«
Lord Faide starrte auf die Tür des Arbeitszimmers. »Was sollen wir jetzt tun?«
Hein Huss’ Blick ging ins Leere, als er sich konzentrierte. »Isak Comandore ist dem Tode nahe. Heute kann er keine weiteren Behexungen vornehmen.«
Lord Faide drehte sich um und winkte den Kabbalisten zu. »Ins Arbeitszimmer! Helft eurem Herrn!«
Die Kabbalisten eilten auf die Tür zu, rissen sie auf und traten ein. Kurz darauf kehrten sie zurück und trugen den erschlafften Leib Isak Comandores. Auf seiner schwarzen Robe zeigten sich Flecken aus purpurnem Schaum. Lord Faide schob sich heran. »Was haben Sie erreicht? Heraus mit der Sprache!«
Isak Comandores Augen war halb geschlossen, und seine Lippen zitterten. »Es gelang mir, mich mit den Eingeborenen in Verbindung zu setzen, mit dem ganzen Volk. Ich habe ein Symbol in ihr Denken projiziert…« Er verlor das Bewußtsein, und der Kopf sank zur Seite.
Lord Faide trat zurück. »Bringt ihn in seine Unterkunft! Legt ihn dort auf den Diwan!« Er wandte sich ab, dachte einige Sekunden lang unschlüssig nach und kaute dabei auf derUnterlippe. »Über das Ausmaß seines Erfolges wissen wir nach wie vor nicht Bescheid.«
»O doch!« widersprach Hein Huss.
Lord Faide sah ihn an. »Wie bitte? Wie soll ich das verstehen?«
»Ich habe in die Seele Comandores geblickt. Er benutzte das Symbol des purpurnen Schaums, und er hat eine ungeheure Anstrengung unternommen, es in den Gemeinschaftsgeist des Ersten Volkes zu senden. Dann jedoch erfuhr er, daß purpurner Schaum nicht mit dem Konzept ›Tod‹ gleichzusetzen ist, sondern ›Gefahr für die Sicherheit des Kollektivs‹ und ›verzweifelter Zorn‹ bedeutet.«
»Wie dem auch sei«, erwiderte Lord Faide nach einigen Sekunden, »Schaden wurde sicher nicht angerichtet. Feindseliger kann das Erste Volk wohl kaum werden.«
Drei Stunden später galoppierte ein Späher auf den Innenhof der Feste, schwang sich eilig aus dem Sattel und lief auf Lord Faide zu. »Das Erste Volk hat den Wald verlassen. Eine riesige Streitmacht! Zu Tausenden kommen die Eingeborenen, und ihr
Ziel ist Faidefeste!«
»Sollen es die Wilden nur wagen, uns anzugreifen!«
knurrte Lord Faide. »Und je mehr es sind, desto besser! Jambart, wo sind Sie?«
»Hier, mein Lord.«
»Kümmern Sie sich um Höllenmaul! Machen Sie die Waffe bereit!«
»Höllenmaul ist jederzeit bereit, mein Lord!«
Lord Faide schlug ihm auf die Schulter. »Hoch mit Ihnen in die Kuppel! Bernard!«
Der Sergeant der Infanteristen kam herbei. »Zur Stelle, Lord.«
»Das Erste Volk greift an. Statten Sie Ihre Leute mit Rüstungen aus, damit sie vor den Wespen geschützt sind. Und geben Sie ihnen gut und reichlich zu essen. Bald brauchen wir all unsere Kraft.«
Im Anschluß daran sah Lord Faide Hein Huss an. »Benachrichtigen Sie die anderen Festen, die großen Landsitze, unsere Verwandten: Wir brauchen ihre Truppen und Waffen. Setzen Sie sich mit Bellgard Hall, Boghoten, Camber und Candelwade in Verbindung. Los schon, Beeilung, wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Huss hob die Hand. »Das ist bereits alles erledigt. Die anderen Bastionen sind gewarnt. Und man weiß dort, daß Sie Hilfe brauchen.«
»Was ist mit dem Ersten Volk? Können Sie sich in das Bewußtsein der Wilden tasten?«
»Nein.«
Lord Faide ging fort. Hein Huss wankte schnaufend durchs Haupttor, wanderte um die Feste herum und betrachtete abschätzend die schwarzen Wände der wuchtigen Türme. Sie wiesen keine Fenster auf und hatten sogar den Wunderwaffen der Ahnen standgehalten. Hoch oben in der Kuppel auf dem gewölbten Dach war Jambart der Waffenwart damit beschäftigt, Metallteile zu polieren, die bereits hell glänzten, und er schmierte dort, wo er schon längst Fett aufgetragen hatte.
Nach einer Weile kehrte Hein Huss in die Bastion zurück. Lord Faide näherte sich ihm, mit funkelnden Augen, die Lippen aufeinandergepreßt. »Was haben Sie gesehen?«
»Nur die Feste, die Mauern, die Türme, das Dach und Höllenmaul.«
»Und was geht Ihnen durch den Kopf?«
»Viele Dinge.«
»Sie weichen aus, wissen mehr, als Sie mir sagen. Sie sollten jetzt besser sprechen, denn wenn Faidefeste von den Wilden erobert wird, sterben Sie mit uns zusammen.«
Hein Huss blickte den Lord aus seinen kristallklaren Augen an und begegnete seinem forschenden Blick. »Ich weiß nur das, was auch Ihnen bekannt ist. Das Erste Volk greift an. Die Eingeborenen haben bewiesen, daß sie nicht dumm sind. Ihre Absicht besteht darin, uns zu töten. Es sind keine Unglücksbringer; sie können uns nicht behexen, uns nicht dazu bringen, die Bastion zu verlassen. Außerdem haben sie keine Möglichkeit, die Wälle zu durchbrechen. Wenn sie versuchen, einen Tunnel zu graben, müßten sie mit granithartem Fels fertigwerden. Was also planen sie? Keine Ahnung. Ob sie Erfolg haben werden? Ich weiß es nicht. Eins aber ist klar: Die Tage des Unglücksbringers und seiner überschaubaren Erfahrungswelt sind gezählt. Ich glaube, wir müssen versuchen, Wunder zu bewirken, uns ebenso töricht und närrisch zu verhalten wie Sam Salazar, als er verschiedene Flüssigkeiten auf Schaum goß.«
Eine kleine Streitmacht aus Rittern passierte das Tor: Kämpfer von der nahen Bastion Bellgard Hall. Und im Verlauf der nächsten Stunden trafen weitere Truppenkontingente aus den anderen Festen ein, bis es auf dem großen Innenhof geradezu von Kriegern und Pferden wimmelte.
Zwei Stunden vor Sonnenuntergang entdeckte man die ersten Eingeborenen im Hügelland. Hunderte und Tausende folgten ihnen. Das Erste Volk rückte nicht in einer Formation vor; Heeresordnungen schienen ihm unbekannt zu sein. Es gab viele Autochthone, die abseits der Hauptmasse marschierten, Nachzügler, Versprengte.
Die Hitzköpfe der anderen Festen traten an Lord Faide heran und baten um die Erlaubnis, losreiten, die Wilden angreifen und sie niedermachen zu dürfen. Die Krieger jedoch, die während der Schlacht bei der neuen Pflanzung Erfahrungen hatten sammeln können, blieben skeptisch. Aber Lord Faide reagierte mit Zufriedenheit auf den Anblick so vieler Gegner. »Laßt sie noch eine weitere Meile herankommen – dann werden sie von Höllemaul verbrannt! Jambart!«
»Zur Stelle, Lord Faide.«
»Komm mit! Wir wollen die Stimme Höllenmauls erklingen lassen!« Er ging davon, und Jambart folgte ihm. Gemeinsam stiegen sie in die Kuppel hoch.
»Rollen Sie die Waffe herum und richten Sie sie auf die Wilden aus!«
Jambart sprang an das glänzende und schimmernde Durcheinander aus Rädern und Hebeln heran. Unsicher zögerte er einige Sekunden lang, und dann betätigte er versuchsweise einen Kontrollmechanismus. Und tatsächlich: Höllenmaul bewegte sich langsam auf dem großen Ring, und Lager, die seit Jahrhunderten geruht hatten, knirschten und ächzten daraufhin laut. Lord Faide runzelte die Stirn und starrte den Waffenwart finster an. »Ich höre etwas, das auf Nachlässigkeit hindeutet.«
»Nachlässigkeit, mein Lord? Auf keinen Fall! Wenn Sie auch nur einen kleinen Rostfladen finden, einen winzigen Ölfleck, so lassen Sie mich auspeitschen!«
»Was hat es dann mit den Geräuschen auf sich?«
»Sie haben ihren Ursprung im Innern der Waffe, jenen Bereichen, die nicht meiner Verantwortung unterliegen.«
Darauf gab Lord Faide keine Antwort. Der große Lauf Höllenmauls zeigte nun auf die gewaltige weiße Masse, die sich der Feste vom Dichtwald her näherte. Jambart drehte ein Rad, und der Zylinder neigte sich nach vorn. »Die Abdeckung, Narr!« sagte Lord Faide mit zornbebender Stimme.
»Ein Versehen, mein Lord, das sich schnell in Ordnung bringen läßt.« Jambart kletterte über den Lauf und klammerte sich ängstlich an den halbkugelförmigen Vorsprüngen fest. Weit unter ihm wölbte sich das Dach von Faidefeste. Es fiel ihm alles andere als leicht, zuerst die Leinenplane und dann die dicke Metallscheibe zu entfernen. Anschließend brummte und fluchte er leise, schob sich langsam zurück, preßte die Knie an den Stahl und zitterte am ganzen Leib.
Das Erste Volk rückte nun langsamer vor, und das Zentrum der Streitmacht war nur noch eine halbe Meile entfernt.
»Jetzt!« rief Lord Faide aufgeregt. »Wir machen den verdammten Wilden den Garaus, bevor sie ausschwärmen können!« Er beugte sich zum Rohr des Zielteleskops hinab und spähte durch beschlagene und innen fleckig gewordene Linsen. Dann bedeutete er Jambart mit einem Wink, die letzten Justierungen vorzunehmen. »Und nun – Feuer!«
Der Waffenwart zog den entsprechenden Hebel. Im Innern des großen Metallzylinders klickte es einige Male. Höllenmaul heulte und brüllte. Die Mündung glühte rot, orangefarben und weiß, und unmittelbar darauf spuckte der Lauf einen grellen und purpurnen Blitz – dessen heller Schein fast sofort wieder verblaßte. Irgendein interner Mechanismus gab ein verhaltenes Flopp! von sich. Dann herrschte Stille.
Der Blitz traf eine Stelle, die etwa hundert Meter von dem Ersten Volk entfernt war, und die Hitzeentwicklung verbrannte das Moos. Offenbar funktionierte die Zieleinrichtung nicht mehr richtig. Höllenmauls Flamme hatte nur zwanzig Eingeborene der Vorhut getötet.
Lord Faide winkte nervös. »Geschwind! Bringen Sie den Lauf in die Höhe! Los! Feuern Sie erneut!«
Jambart betätigte den Auslösehebel zum zweitenmal, doch nichts geschah. Er versuchte es wieder, ebenfalls ohne Erfolg. »Offenbar ist Höllenmaul müde.«
»Höllenmaul ist tot!« kreischte Lord Faide. »Sie haben mich verraten, die Waffe nicht gründlich genug gepflegt.«
»Nein, nein«, widersprach Jambart. »Höllenmaul ruht sich nur aus. Ich habe mich mit meiner ganzen Hingabe um das Geschütz gekümmert. Es ist so sauber wie poliertes Glas. Immer dann, wenn irgendein Teil Abnutzungserscheinungen zeigte oder abbrach, habe ich die betreffende Komponente entfernt, dabei nicht einmal den kleinsten Splitter übersehen.«
Lord hob beide Arme und schrie mit kummervoller, wütender und sich überschlagender Stimme: »Huss! Hein Huss!«
Hein Huss eilte schnaufend herbei. »Was wünschen Sie?«
»Höllenmauls Feuer ist erloschen. Ich möchte, daß Sie weitere Flammen beschwören, und zwar rasch!«
»Unmöglich.«
»Unmöglich!« regte sich der Lord auf. »Etwas anderes höre ich von Ihnen nicht! Unmöglich, zwecklos, unpraktisch! Ihr Geschick hat sich drastisch verringert. Ich werde Isak Comandore um Hilfe bitte.«
»Isak Comandore kann Höllenmaul ebensowenig wie ich dazu bringen, wieder zu brennen.«
»Was soll das denn bedeuten? Er ist dazu imstande, in Menschen Dämonen zu erwecken. Und bestimmt vermag er Höllenmaul mit neuem Feuer zu erfüllen!«
»Beruhigen Sie sich, Lord Faide, Sie sind überreizt. Sie kennen doch den Unterschied zwischen Unheilskunst und Wundermacherei.«
Lord Faide wandte sich seinem Diener zu. »Bring Isak Comandore zu mir!«
Kurz darauf traf der Unglücksbringer ein, das Gesicht hohlwangig, die Haut grau und wächsern. Er humpelte auf den Lord zu, der keine Zeit verlor und sofort zur Sache kam. »Ich brauche Ihre Fähigkeiten. Sorgen Sie dafür, daß Höllenmaul wieder Blitze spucken kann.«
Comandore warf Hein Huss einen kurzen Blick zu, der sich nichts anmerken ließ und ein ausdrucksloses Gesicht zur Schau trug. Daraufhin entschied sich Comandore gegen pathetisch klingende Versprechen, die doch nicht gehalten werden konnten. »Dazu sehe ich mich außerstande, mein Lord.«
»Was? Sie weigern sich ebenfalls?«
»Bitte denken Sie an den Unterschied zwischen Menschen und totem Metall, Lord Faide. Der normale geistige Zustand eines Menschen kommt fast dem Wahnsinn gleich. Die ganze Zeit über balanciert seine Seele zwischen Hysterie und Apathie. Seine Sinne teilen ihm weitaus weniger von der Welt mit, als er gemeinhin glaubt. Daher ist es ganz leicht, ihn zu täuschen, einen Dämonen in ihm zu wecken, ihn überschnappen zu lassen, ihn gar zu töten. Metall jedoch ist empfindungslos. Metall reagiert nur auf die Diktate von Form und Zweck – oder auf Wundermacherei.«
»Dann sorgen Sie eben dafür, daß ein Wunder geschieht!«
»Unmöglich.«
Lord Faide holte tief Luft und fand langsam wieder zu sich. Er kehrte auf den Hof zurück und rief: »Meine Rüstung, das Pferd! Wir greifen an.«
Die Kolonne bezog Aufstellung, mit Lord Faide an der Spitze. Er führte die Ritter durch das Tor, und es folgten Infanteristen, die nun ebenfalls mit Rüstungen geschützt waren.
»Achtet auf den Schaum!« rief Lord Faide. »Greift an, schlagt zu und zieht euch wieder zurück. Die Visiere herunterklappen, damit die Wespen euch nicht stechen können! Jeder Kämpfer muß mindestens hundert Wilde umbringen! Los!«
Und die Streitmacht näherte sich dem Ersten Volk, voran die Ritter. Die Hufe ihrer Pferde pochten dumpf über das weiche Moos hinweg. Im Westen hing die große Sonne dicht überm Horizont.
Zweihundert Meter vor den Autochthonen trieben die Ritter ihre Rösser zum Galopp an. Sie zogen die Schwerter und griffen an, wobei jeder Krieger versuchte, den Feind als erster zu erreichen. In der dichten Masse der gegnerischen Truppen bildete sich eine Schneise: Schwarze Käfer rannten auf die Menschen zu, und ihnen folgten lange Wesen, die aus einzelnen Segmenten zu bestehen schienen und Tausendfüßler ähnelten. Sie stürmten den Pferden entgegen, und ihre Beißzangen klackten und klickten. Die Rösser wieherten laut, scheuten und wichen zurück, und die Käfer zerbissen die Rüstungen der Ritter ebenso mühelos, wie ein Hund einen Knochen zermalmt. Lord Faide wurde aus dem Sattel geschleudert, und sein Pferd stob davon. Er kam wieder auf die Beine, hieb nach einem nahen Käfer und trennte ein Bein ab. Das schwarze Ungetüm kroch weiterhin auf ihn zu, und daraufhin schlug er ihm ein zweites Bein ab. Der Käfer stürzte nach vorn, und sein chitinhartes Maul bohrte sich ins Moos.
Lord Faide zielte mit seinem Schwert auf die noch verbliebenden Beine, und anschließend konnte sich das Wesen nicht mehr von der Stelle rühren.
»Rückzug!« rief er. »Rückzug!«
Die Ritter versuchten, sich vom Feind zu lösen, und immer wieder bohrten sich ihre Klingen in die Leiber von Käfern und Tausendfüßlern. Alle angreifenden Tiere wurden, entweder getötet oder verstümmelt.
»Ritter und Soldaten – in einer Doppelreihe Aufstellung beziehen. Rückt langsam vor und deckt euch gegenseitig!«
Die Männer befolgten die Anweisung des Lords. Die Nichtmenschen schwärmten aus, um sich ihnen zum Kampf zu stellen. Bewaffnet waren sie mit Dornschwertern, und außerdem trugen sie Taschen bei sich. Zehn Meter vor den Kämpfern von Faidefeste griffen sie in die Beutel, holten dunkle Kugeln hervor und schleuderten sie den Kriegern entgegen. Sie zerplatzten an den Rüstungen.
»Zum Angriff!« brüllte Lord Faide. Und seine Männer sprangen los und hackten mit ihren Schwertern auf die Autochthonen ein. »Tötet sie!« rief Lord Faide triumphierend. »Laßt keinen von ihnen am Leben!«
Plötzlich verspürte er im Innern der Rüstung einen schmerzhaften Stich, dann einen weiteren. Und noch einen. Winzige Geschöpfe drangen durch kleine Fugen im Harnisch ein, krochen über die Haut des Lords und bissen immer wieder zu. Er sah sich um. Sein Blick fiel auf verzerrte Gesichter, und viele der Ritter schlugen wild um sich, versuchten vergeblich, sich zu kratzen und die Plagegeister zu zerquetschen. Zwei Männer begannen damit, sich die Rüstung vom Leib zu reißen.
»Zurück?« rief Lord Faide. »Zurück zur Feste!«
Der Rückzug kam eher einer wilden Flucht gleich, und während sie dahinstürmten, ließen die Männer Teile ihrer Harnische auf dem Moos liegen. Dann schwirrten Wespen heran. Es waren nur zwölf oder einige wenige mehr, und sechs Ritter gellten, als sich giftige Stechrüssel in ihre Rücken bohrten.
Durch das Tor liefen die völlig verwirrten Männer, und auf dem Innenhof streiften sie die metallene Panzerung ab, kratzten sich, rieben sich über Arme und Beine und versuchten verzweifelt, sich von den winzigen roten Beißmilden zu befreien.
»Schließt das Tor«, grollte Lord Faide.
Das Tor schwang zu. Und Faidefeste wurde vom Feind belagert.
XI
Während der Nacht bildete das Erste Volk fünfzig Meter vor den Wällen der Bastion einen weiten Ring. Und die ganze Nacht über waren die Autochthonen in Bewegung: bleiche Schatten, die im matten Licht der Sterne hin und her huschten und in ständiger Bewegung blieben.
Bis Mitternacht beobachtete Lord Faide von der Brustwehr aus den Feind, und Hein Huss leistete ihm dabei Gesellschaft. Immer wieder fragte er: »Was ist mit den anderen Festen? Schicken Sie mir Verstärkung?« Und jedesmal gab Hein Huss die gleiche Antwort: »Es herrschen allgemeine Verwirrung und Skepsis. Die Lords der anderen Bastionen sind durchaus bereit, Ihnen zu helfen, aber sie wollen ihre Kämpfer nicht in den sicheren Tod schicken. Derzeit überlegen sie und versuchen, sich ein Bild von der Lage zu machen.«
Schließlich verließ Lord Faide die Brustwehr und bedeutete Hein Huss, ihm zu folgen. Er begab sich in sein Trophäenzimmer, ließ sich in einen Sessel sinken und forderte seinen Begleiter dazu auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Einige Sekunden lang musterte er den großen massigen Mann nachdenklich, und Hein Huss reagierte mit Gelassenheit auf den durchdringenden Blick des Lords.
»Sie sind Oberster Unglücksbringer«, sagte Faide schließlich. »Seit zwanzig Jahren beschwören Sie Dämonen, nehmen Behexungen vor und deuten Vorzeichen und Omen – und Sie haben dabei bewiesen, geschickter und fähiger zu sein als alle anderen Unglücksbringer Pangborns. Jetzt aber wirken Sie gleichgültig und desinteressiert. Warum?«
»Sie irren sich mit Ihrer Einschätzung. Ich bin alles andere als gleichgültig, doch andererseits sehe ich mich außerstande dazu, etwas zu leisten, was meine Kräfte übersteigt. Ich weiß nicht, wie man Wunder bewirkt. In dieser Hinsicht sollten Sie sich an meinen Novizen Sam Salazar wenden. Er weiß es zwar ebenfalls nicht, aber er gibt sich große Mühe und versucht es auf alle möglichen und unmöglichen Arten.«
»Selbst Sie glauben an solchen Unfug! Sie sind zu einem Mystiker geworden!«
Hein Huss zuckte mit den Schultern. »Meinem Wissen sind Grenzen gesetzt. Wunder geschehen – soviel wissen wir. Überall gibt es die Relikte unserer Ahnen. Sie verwendeten übernatürliche Methoden, ein System, das unserer heutigen und sehr rationalen Denkweise abergläubisch und völlig verwirrend erscheint. Doch jetzt verwendet das Erste Volk jene Techniken, um uns zu besiegen. Anstelle von Metall setzen die Eingeborenen lebendes Fleisch ein – mit dem gleichen Resultat. Wenn sich die Menschen von Pangborn vereinen und bereit sind, große Verluste in Kauf zu nehmen, gelingt es ihnen vielleicht, die Autochthonen in den Dichtwald zurückzutreiben
– aber für wie lange? Ein Jahr? Ein Jahrzehnt? Das Erste Volk pflanzt neue Bäume, richtet weitere Fallen ein; und irgendwann wird es erneut angreifen, mit noch schrecklicheren Waffen: mit Flugkäfern, die so groß sind wie Pferde, mit Wespen, die stark genug sind, um Rüstungen zu durchstoßen, mit Eidechsen, die an den Wällen von Faidefeste hochklettern können.«
Lord Faide rieb sich das Kinn. »Und die Unglücksbringer können nichts dagegen unternehmen?«
»Sie haben es ja selbst erlebt. Isak Comandore ist es gelungen, in das Gemeinschaftsbewußtsein des Ersten Volkes einzudringen, doch er weckte nur Zorn.«
»Nun gut. Was sollen wir also tun?«
Hein Huss breitete kurz die Arme aus. »Ich weiß es nicht. Ich bin Hein Huss, Unglücksbringer. Ich habe Sam Salazar voller Faszination beobachtet. Er lernt nichts, aber er ist entweder zu dumm oder zu intelligent, um sich entmutigen zu lassen. Vielleicht gelingt es ihm tatsächlich herauszufinden, wie man Wunder bewirken kann.«
Lord Faide stand auf. »Ich bin todmüde und kann nicht mehr richtig denken. Ich muß schlafen. Morgen werden wir mehr wissen.«
Hein Huss verließ das Trophäenzimmer und kehrte auf den Wehrgang zurück. Der Ring des Ersten Volkes schien sich enger um die Feste geschlossen zu haben, und er hatte fast den Eindruck, als seien die Eingeborenen bis auf Pfeilreichweite herangekommen. Hinter ihnen reichte eine lange bleiche Kolonne weit übers Moos nach Norden. Ein wenig abseits der Bastion wuchs ein Haufen aus weißem Material, und im Verlaufe der nächsten Stunden wurde er immer größer.
Die Nacht ging zu Ende, und der Himmel erhellte sich allmählich. Im Osten stieg die Sonne über den Horizont. Wie ein Ameisenheer marschierten die Autochthonen durch das Hügelland und trugen lange Riegel aus gehärtetem Schaum aus dem Norden herbei. Vor den Wällen der Feste häuften sie sie zu Stapeln auf, und dann kehrten sie in den Dichtwald zurück, um Nachschub zu holen.
Lord Faide trat an die Brustwehr heran; er wirkte unausgeschlafen und nervös. Er hatte sich nicht einmal rasiert. »Was hat das zu bedeuten? Was tun die Wilden da?«
»Es ist uns allen ein Rätsel«, erwiderte Sergeant Bernard.
»Hein Huss! Was ist mit den anderen Festen?«
»Sie haben Truppen ausgerüstet und in Marsch gesetzt, doch sie rücken nur langsam vor.«
»Können Sie ihnen mitteilen, wie dringend wir Unterstützung brauchen?«
»Das kann ich, und es ist bereits geschehen. Meine Mitteilung verstärkte nur ihren Hang zur Vorsicht.«
»Pah!« machte Lord Faide verächtlich. »Und solche Leute nennen sich Krieger, bezeichnen sich als treue und loyale Verbündete!«
»Sie wissen, welche bittere Erfahrungen Sie mit dem Ersten Volk machen mußten«, erwiderte Hein Huss. »Und deshalb fragen Sie sich aus gutem Grund, ob sie etwas bewerkstelligen können, was Ihnen bisher nicht gelang.«
Lord Faide lachte humorlos. »Darauf vermag ich keine Antwort zu geben. Nun, bis die Verstärkung eintrifft, sollten wir etwas unternehmen, um uns vor den Wespen zu schützen. Rüstungen sind nutzlos. Die Beißmilben dringen durch kleine Fugen ein und können einen innerhalb kurzer Zeit um den Verstand bringen… Bernard!«
»Zur Stelle, Lord Faide!«
»Sorgen Sie dafür, daß jeder Ihrer Männer ein rund sechzig Zentimeter langes und mit einem Handgriff versehenes Gestell anfertigt. Daran sollen dichte Netze befestigt werden. Wenn sie fertig sind, greifen wir an, und jeweils zwei Soldaten schützen dann einen zu Fuß vorrückenden Ritter, der nur noch einen Teil seiner Rüstung trägt.«
»Und unterdessen«, ließ sich Hein Huss vernehmen, »setzt das Erste Volk seine Vorbereitungen fort.«
Lord Faide drehte sich um und blickte in die Tiefe. Mit
Stäben | aus | gehärtetem | Schaum | näherten | sich | die | ||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Autochthonen | den | Wällen. | »Bernard! | Setzen | Sie | die | ||||
Bogenschützen ein! Sie sollen auf die Köpfe zielen!« |
Die Soldaten auf dem Wehrgang zogen die Sehnen durch, und Dutzende von Pfeilen jagten den Eingeborenen entgegen. Einige der bleichen Gestalten blieben stehen, setzten sich dann wieder in Bewegung und stakten wie orientierungslos umher. Andere zogen einfach die Geschosse aus den Wunden, die sie in keinster Weise zu behindern schienen. Ein weiterer Schwarm aus Pfeilen, und erneut wurden einige Nichtmenschen außer Gefecht gesetzt. Die anderen steckten die Stäbe ins Moos und sonderten große Schaumfladen ab; die Rückenhäute pumpten rhythmisch. Neue Stäbe wurden herbeigebracht und in den Schaum geschoben, und auf diese Weise entstand innerhalb kurzer Zeit ein neuer Ring um Faidefeste. Die Hauptmasse der Belagerer näherte sich und machte sich ebenfalls daran, Schaum zu blasen. Der Berg wuchs rasch in die Höhe, und die Stäbe sorgten ganz offensichtlich dafür, daß er nicht zusammenbrach.
»Mehr Pfeile!« befahl Lord Faide. »Auf die Köpfe zielen! Bernard – sind Ihre Männer bereits mit den Wespennetzen fertig?«
»Noch nicht, Lord Faide. Das Projekt erfordert mehr Zeit.«
Daraufhin schwieg Lord Faide. Der Schaumberg war inzwischen drei Meter hoch und wuchs rasch. Der Herr von Faidefeste wandte sich an Hein Huss. »Was haben die Wilden vor?«
Hein Huss schüttelte den Kopf. »Derzeit habe ich noch keine Erklärung für jenes seltsame Verhalten.«
Die erste Schicht des Schaums war hart geworden. Sofort machte sich das Erste Volk daran, darauf eine zweite zu bilden, und wieder benutzte es die Stäbe, um die Konstruktion zu verstärken. Waagerecht und senkrecht wurden sie in die Masse eingesetzt. Fünfzehn Minuten später, als auch die zweite Schicht hart war, holten die Eingeborenen primitive Leitern herbei, brachten sie in Stellung und begannen mit dem Auftragen der dritten Schicht. Der ganze Faidefeste umschließende Schaumberg hatte jetzt eine Höhe von neun Metern erreicht, und an der Basis durchmaß er zwölf Meter.
»Sehen Sie!« sagte Hein Huss und deutete in die Höhe. Der Rand des gewölbten Daches endete nur knapp zehn Meter über dem Schaum. »Noch einige Schichten, und der Feind erreichtdie Überspannung.«
»Na und?« gab Lord Faide zurück. »Das Dach ist ebenso widerstandsfähig wie die Wände.«
»Aber dann sind wir völlig eingeschlossen.«
Lord Faide betrachtete den Schaumberg aus dieser neuen Perspektive. Auf der Seite des weißen Walles kletterten die Autochthonen die Leitern hoch und setzten bereits dazu an, die vierte Schicht zu bilden. Zuerst die trockenen harten Stäbe, dann große Fladen aus farblosem Schaum. Zwischen dem Rand des Daches und dem Umschließungswall verblieben nur noch sechs Meter.
Lord Faide sah Bernard an. »Bereiten Sie die Männer zum Angriff vor!«
»Was ist mit den Wespennetzen, mein Lord?«
»Sind sie jetzt fertig?«
»In zehn Minuten, mein Lord.«
»In zehn Minuten ersticken wir alle. Wir müssen den Schaumberg durchstoßen.«
Zehn Minuten verstrichen, dann noch einmal fünf. Das Erste Volk errichtete Rampen hinter dem Wall. Zuerst kamen Dutzende von Stäben zum Einsatz, dann Schaum – und ganz oben wurden geflochtene Matten ausgelegt, um das Gewicht zu verteilen.
Sergeant Bernard erstattete Lord Faide Bericht. »Wir sind bereit.«
»Gut.« Lord Faide begab sich auf den Hof, wandte sich an die Kämpfer und erteilte Befehle. »Rückt rasch vor, aber bleibt zusammen. Wir dürfen uns im Schaum nicht verlieren. Schlagt nach vorn und den Seiten, während ihr euch einen Weg bahnt. Die Wilden können durch den Schaum sehen, sind uns gegenüber also im Vorteil. Wenn wir durchbrechen, verwenden wir die Wespennetze. Jeweils zwei Soldaten schützen einen Ritter. Denkt daran: geschwind durch den Schaum, auf daß wir nicht ersticken, öffnet das Tor!«
Und die Streitmacht marschierte los. Vor den Kriegern erhob sich ein hoher Schaumberg. Von Feinden war weit und breit nichts zu sehen.
Lord Faide schwang sein Schwert. »Hinein in den Schaum!« Er ging los und schob sich in die weiße Masse, die jedoch härter und spröder war, als er erwartet hatte. Es fiel ihm sehr schwer, darin voranzukommen. Immer wieder hob er die Klinge, stieß zu, hackte und schlug. Weiter oben krochen Autochthonen auf den Matten, und ihre Rückenhäute spannten sich und erschlafften, pumpten weiteren Schaum. Er drang aus den Schlitzen unter ihren Armen und wogte auf die Angreifer herab.
Hein Huss seufzte und sprach seinen Novizen Sam Salazar an. »Jetzt müssen sie sich zurückziehen, wenn sie nicht ersticken wollen. Und wenn es ihnen nicht gelingt, den Umschließungswall zu durchbrechen, sterben wir alle.«
Und noch während er diese Worte aussprach, wuchs der Schaumberg weiter und erreichte an einigen Stellen den Rand des Daches. Tief unten fluchte Lord Faide, wich in Richtung des Tors zurück und wischte sich klebriges Weiß aus dem Gesicht. Er holte einige Male tief Luft, rückte erneut vor und versuchte es an einer anderen Stelle.
Der Schaum war nicht wirklich fest und ließ sich recht einfach zerschneiden, doch die abgetrennten Brocken klebten an dem Wall fest und versperrten den Weg. Und wieder sanken weiße Wolken herab und bedeckten die Soldaten.
Lord Faide wandte sich von dem Schaumberg ab und winkte seine Krieger in die Feste zurück. Gleichzeitig krochen weitere Nichtmenschen über die Matten und legten gehärtete Stäbe so aus, daß sie den Rand des Daches berührten. Sie sprühten klebrige Fladen. Und schon nach kurzer Zeit konnten Hein Huss und Sam Salazar den Himmel nicht mehr sehen.
»In ein oder zwei Stunden sind wir tot«, sagte der Oberste Unglücksbringer. »Die Autochthonen haben uns in der Feste eingeschlossen. Hier halten sich viele Menschen auf, und sie alle brauchen Atemluft.«
Nervös erwiderte Sam Salazar: »Vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit für uns, zu überleben – oder wenigstens nicht zu ersticken.«
»Ach?« entgegnete Hein Huss spöttisch. »Willst du etwa ein Wunder bewirken?«
»Wenn es ein Wunder ist, so handelt es sich um ein ganz einfaches und schlichtes. Ich habe festgestellt, daß Wasser keine Wirkung auf den Schaum hat, ebensowenig einige andere Flüssigkeiten wie zum Beispiel Milch, Spiritus, Wein und Säure. Essig aber löst ihn sofort auf.«
»Aha«, machte Hein Huss. »Das sollten wir Lord Faide mitteilen.«
»Übernehmen Sie das bitte«, sagte Sam Salazar. »Auf mich wird er wohl kaum hören.«
XII
Eine halbe Stunde verstrich. In Faidefeste herrschte nur noch graues Zwielicht, und die Luft war bereits schal und schwer zu atmen. Soldaten eilten durchs Tal. Jeder von ihnen trug einen mit Essig gefüllten Krug, Eimer und Topf.
»Beeilt euch!« rief Lord Faide. »Aber seid vorsichtig! Verschwendet den Essig nicht. In dichter Formation – vorwärts!«
Die Krieger näherten sich dem Umschließungswall und spritzten Essig. Der Schaum knisterte, wurde flüssig und tropfte zu Boden.
»Vorsicht mit dem Essig!« rief Lord Faide. »Los, weiter! Rasch! Bringt Nachschub!«
Einige Minuten später durchstießen die ersten Krieger den Wall und sahen vor sich das Hügelland. Das Erste Volk starrte sie groß an.
»Zum Angriff!« brüllte Lord Faide heiser. »Die Wespennetze spannen! Jeweils zwei Soldaten schützen einen Ritter! Stürmt vor, so schnell ihr könnt! Macht dem weißen Gewürm den Garaus.«
Die Männer stürmten los, und die Eingeborenen hoben Wespenrohre. »Halt!« rief Lord Faide. »Die Netze!«
Mit summenden Flügeln kamen die Wespen heran. Die Netze wurden gespannt, und die Insekten verfingen sich darin. Anschließend ließen die Soldaten die Haltegestelle fallen und zertraten die kleinen Tiere. Käfer und Tausendfüßler näherten sich, doch nicht annähernd in so großer Zahl wie am vergangenen Abend, denn viele von ihnen waren getötet worden. Sie fielen über die Menschen her, und einige Krieger starben. Doch die anderen schlugen auf sie ein und zerhackten sie in kleine Brocken aus stinkendem Fleisch. Weitere Wespen flogen, und manche von ihnen trafen ins Ziel. Die peinerfüllten Schreie der gestochenen und vergifteten Soldaten hallten weit übers Land. Doch es dauerte nicht lange, bis dem Ersten Volk auch der Vorrat an diesen Insekten ausging.
Daraufhin wandten sich die Krieger den Eingeborenen zu, die nur mit Dornschwertern und ihrem Schaum bewaffnet waren, der nun die purpurne Färbung des Zorns annahm.
Lord Faide hob seine lange Klinge, und die Kämpfer rückten gegen die Autochthonen vor und brachten sie zu Dutzenden und Hunderten um.
Hein Huss eilte herbei und trat auf Lord Faide zu. »Beenden Sie die Schlacht!«
»Beenden? Warum denn? Jetzt können wir es dem Gewürm endlich heimzahlen.«
»Das wäre nicht sonderlich klug. Es hat keinen Sinn, sich gegenseitig zu töten. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, eine weise Entscheidung zu treffen.«
»Die Wilden haben uns belagert, uns in ihre Fallgruben stürzen und von ihren verdammten Wespen zu Tode stechen lassen. Wollen Sie etwa von mir verlangen, daß ich das alles einfach vergesse?«
»Seit eintausendsechshundert Jahren sind die Eingeborenen bestrebt, sich an uns zu rächen. Ich halte es für angeraten, ihnen keinen Grund zu geben, weiterhin auf Vergeltung aus zu sein.«
Lord Faide starrte Hein Huss groß an. »Was schlagen Sie vor?«
»Frieden zwischen unseren beiden Völkern – Frieden und Zusammenarbeit.«
»Nun gut. Keine weiteren Fallen, keine neuen Pflanzungen, Schluß mit der Zucht tödlicher Insekten.«
»Rufen Sie Ihre Krieger zurück. Ich will versuchen, das Erste Volk zu einer entsprechenden Übereinkunft zu bewegen.«
Und Lord Faide schrie so laut er konnte: »Ritter und Soldaten, löst euch vom Feind! Geht in Stellung und wartet!«
Widerstrebend wichen die Truppen zurück. Hein Huss näherte sich den überlebenden Autochthonen, die sich eng zusammendrängten und purpurnen Schaum bliesen. Einige Sekunden lang zögerte er, während die aufmerksamen Blicke der Nichtmenschen auf ihm ruhten. Dann sagte er in ihrer Sprache:
»Ihr habt Faidefeste angegriffen und trotz eurer guten Pläne eine Niederlage erlitten. Wir erwiesen uns als stärker. Wir könnten euch jetzt alle töten, und anschließend wären wir dazu in der Lage, die Wälder an hundert Stellen in Brand zu setzen. Einige der Feuer könntet ihr vielleicht löschen, andere jedoch nicht. Ja, wir hätten die Möglichkeit, den ganzen Dichtwald niederzubrennen. Die Reste des Ersten Volkes würden sich vielleicht zurückziehen und irgendwo Zuflucht finden, um neue Pläne für die Vernichtung der Menschheit dieser Welt zu entwickeln. Das wollen wir vermeiden. Lord Faide ist bereit, Frieden mit euch zu schließen – wenn ihr damit einverstanden seid. Das bedeutet, daß ihr keine Fallen mehr errichtet. Wir Menschen verlangen von euch, daß wir ungehindert durch die Wälder wandern können. Als Gegenleistung bieten wir euch die Möglichkeit an, sooft ihr wollt aufs Moos zu kommen. Fortan soll kein Volk mehr das andere belästigen. Welche Wahl trefft ihr? Auslöschung – oder Frieden?«
Es drang kein purpurner Schaum mehr aus den Schlitzen des Ersten Volkes. »Wir wählen den Frieden.«
»Es darf keine weiteren Wespen und Käfer mehr geben. Und die tödlichen Fallen müssen beseitigt werden.«
»Wir sind einverstanden. Und ihr gestattet uns dafür freien Zugang zum Moos.«
»Ja, so soll es sein. Bringt eure Toten und Verwundeten fort und tragt die Schaumstäbe in den Wald zurück.«
Hein Huss trat auf Lord Faide zu. »Die Eingeborenen sind zum Frieden bereit.«
Lord Faide nickte. »Ausgezeichnet. So ist es für uns alle am besten.« Und er rief seinen Männern zu: »Steckt die Waffen weg! Wir haben einen großen Sieg errungen.« Mit finsterer Miene betrachtete er Faidefeste: Die schwarzen Mauern waren hinter dem Wall aus Schaum verborgen, und man konnte nur das hohe Dach sehen. »Nicht einmal hundert Fässer mit Essig reichen aus, um das klebrige Weiß zu entfernen.«
Hein Huss blickte in die Ferne. »Die Truppen Ihrer Verbündeten nähern sich rasch. Die Unglücksbringer haben ihnen von unserem Sieg berichtet.«
Lord Faide lachte bitter. »Und jenen Rittern und Soldaten wird die Aufgabe zufallen, Faidefeste vom Schaum zu befreien.«